uschel  Dicke apfelgrüne Strünke sproßten wie Riesenspargel dichtgedrängt aus dem feuchten Boden. Ich furchtete in diesem lebenden Zaun wie in einem Käfig gefangen zu werden, wurde jedoch, ehe ich mir recht überlegte, was zu tun sei, befreit. Der tote Müller, nun nicht mehr durchsichtig, hatte in Krämpfen einen Kranz von vielen Hunderttausenden milchiger, weißer Eierchen gelegt, aus denen sich Legionen von Schnecken entwickelten, die ihren Erzeuger sogleich begierig auffraßen. Ein durchdringender Geruch von Selchfleisch verbreitete sich und brachte die fleischigen Stengel zum Faulen, so daß sie in sich zusammenfielen. In der Ferne verschwand die Vorstadt in einem Gespinst violett schimmernder Fäden.

Ich bemerkte eine kolossale Muschel, die wie ein Felsenriff am Flußufer lag; ich sprang auf ihre harte Schale. Da, ein neues Unheil! Die Muschel öffnete sich schwerfällig, mein Standort wurde abschüssig, in ihrem Innern zitterten gelatineartige Massen. - Alfred Kubin, Die Andere Seite. München 1975 (zuerst 1909)

Muschel (2)  Eine Muschel ist ein kleines Ding, ich kann es aber ins Riesenhafte vergrößern, wenn ich es an seinen Fundort, die Weite des Sandes, zurückversetze. Denn nun werde ich eine Handvoll Sand aufnehmen und beobachten, wie wenig davon in meiner Hand zurückbleibt, wenn mir das Ganze durch die Fingerritzen gelaufen ist; ich werde ein paar Sandkörner ins Auge fassen, dann jedes einzelne, und in diesem Augenblick wird mir keins von ihnen klein vorkommen; bald wird mir die deutlich gewordene Muschel, diese Austernschale oder das tiaraförmige Haus des Einsiedlerkrebses oder dieses »couteau«, denselben Eindruck machen wie ein riesiges, ebenso kolossales wie kostbares Monument, etwa wie der Tempel von Angkor Vat, wie Saint-Maclou oder die Pyramiden, durch eine viel merkwürdigere Bedeutung jedoch als dies gar zu unumstößliche Menschenwerk.

Wenn es mir nun in den Sinn kommt, daß diese Muschel, die eine Meereswoge fraglos bedecken kann, von einem Tier bewohnt wird, wenn ich mir zu dieser Muschel noch ein Tier hinzudenke und mir das Ganze ein paar Zentimeter unter Wasser vorstelle, so könnt ihr euch ausmalen, wie sehr sich mein Eindruck verstärkt, wie sehr er an Intensität gewinnt und sich von jenem unterscheidet, den das bemerkenswerteste der eben genannten Baudenkmäler hervorzurufen vermag!  

Die Baudenkmäler des Menschen ähneln Teilen seines Skeletts oder irgendwelcher anderen Skelette, großen, vom Fleisch entblößten Knochen: sie erinnern an keinen Bewohner, der ihrer Größe entspräche. Aus den mächtigsten Kathedralen quillt doch nur eine wimmelnde Menge von Ameisen, und selbst die Villa, das prunkvollste Schloß, erbaut für einen einzigen Menschen, sind eher einem Bienenkorb oder einem Ameisenhaufen mit zahllosen Zellen zu vergleichen als einer Muschel. Verläßt der Herr seine Wohnstatt, macht er bestimmt weniger Eindruck, als wenn der Einsiedlerkrebs seine ungeheure Schere aus der Mündung des prächtigen Horns streckt, das ihn beherbergt.

Ich könnte Gefallen daran finden, Rom oder Nîmes als das verstreute Skelett, hier das Schienbein, dort den Schädel, einer vorzeiten lebendigen Stadt, eines ehemaligen Lebewesens anzusehen, aber dann müßte ich mir einen riesigen Koloß aus Fleisch und Bein vorstellen, der wirklich mitnichten dem entspräche, was man vernünftigerweise aus dem uns beigebrachten Wissen folgern kann und sei's dank solcher Ausdrücke im Singular wie Populus Romanus oder Foule Provencale.

Wie herrlich, wenn man mir eines Tages klarmachte, daß ein solcher Koloß wirklich existiert hat, wenn man das reichlich gespenstische und überdies bloß abstrakte, von keinerlei Überzeugungskraft erfüllte Hirngespinst, das ich in mir trage, gewissermaßen nähren würde! Wenn man mich seine Wangen berühren ließe, die Form seines Armes und wie er ihn am Körper hielt. All das haben wir bei der Muschel: hier befinden wir uns mitten im Leben, wir verlassen die Natur nicht: Molluske oder Schalentier sind hier anwesend. Daher eine Art von Beunruhigung, die unsere Freude verzehnfacht.  - (lyr)

 

Weichtier

 

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