Ich bemerkte eine kolossale Muschel, die wie ein Felsenriff am Flußufer lag;
ich sprang auf ihre harte Schale. Da, ein neues Unheil! Die Muschel öffnete
sich schwerfällig, mein Standort wurde abschüssig, in ihrem Innern zitterten
gelatineartige Massen. - Alfred Kubin, Die Andere Seite. München 1975 (zuerst 1909)
Wenn es mir nun in den Sinn kommt, daß diese Muschel, die eine Meereswoge fraglos bedecken kann, von einem Tier bewohnt wird, wenn ich mir zu dieser Muschel noch ein Tier hinzudenke und mir das Ganze ein paar Zentimeter unter Wasser vorstelle, so könnt ihr euch ausmalen, wie sehr sich mein Eindruck verstärkt, wie sehr er an Intensität gewinnt und sich von jenem unterscheidet, den das bemerkenswerteste der eben genannten Baudenkmäler hervorzurufen vermag!
Die Baudenkmäler des Menschen ähneln Teilen seines Skeletts oder irgendwelcher anderen Skelette, großen, vom Fleisch entblößten Knochen: sie erinnern an keinen Bewohner, der ihrer Größe entspräche. Aus den mächtigsten Kathedralen quillt doch nur eine wimmelnde Menge von Ameisen, und selbst die Villa, das prunkvollste Schloß, erbaut für einen einzigen Menschen, sind eher einem Bienenkorb oder einem Ameisenhaufen mit zahllosen Zellen zu vergleichen als einer Muschel. Verläßt der Herr seine Wohnstatt, macht er bestimmt weniger Eindruck, als wenn der Einsiedlerkrebs seine ungeheure Schere aus der Mündung des prächtigen Horns streckt, das ihn beherbergt.
Ich könnte Gefallen daran finden, Rom oder Nîmes als das verstreute Skelett, hier das Schienbein, dort den Schädel, einer vorzeiten lebendigen Stadt, eines ehemaligen Lebewesens anzusehen, aber dann müßte ich mir einen riesigen Koloß aus Fleisch und Bein vorstellen, der wirklich mitnichten dem entspräche, was man vernünftigerweise aus dem uns beigebrachten Wissen folgern kann und sei's dank solcher Ausdrücke im Singular wie Populus Romanus oder Foule Provencale.
Wie herrlich, wenn man mir eines Tages klarmachte, daß ein solcher Koloß
wirklich existiert hat, wenn man das reichlich gespenstische und überdies
bloß abstrakte, von keinerlei Überzeugungskraft erfüllte Hirngespinst,
das ich in mir trage, gewissermaßen nähren würde! Wenn man mich seine Wangen
berühren ließe, die Form seines Armes und wie er ihn am Körper hielt. All
das haben wir bei der Muschel: hier befinden wir uns mitten im Leben, wir
verlassen die Natur nicht: Molluske oder Schalentier sind hier anwesend.
Daher eine Art von Beunruhigung, die unsere Freude verzehnfacht. -
(lyr)
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