Muhen   Betrachten wir zuerst die bretonische Kuh. Das ganze Jahr über denkt sie nur ans Weiden, ihr glänzendes Maul senkt und hebt sich mit beeindruckender Regelmäßigkeit, und kein ängstliches Zittern trübt den pathetischen Blick ihrer hellbraunen Augen. Das alles scheint sehr bedeutend; das alles scheint sogar auf eine tiefe existentielle Einheit zu verweisen, auf eine in mehrerlei Hinsicht beneidenswerte Einheit zwischen ihrem Dasein und ihrem Sein. Doch leider sieht sich der Philosoph in diesem Fall bei einem Fehler ertappt, und seine Schlussfolgerungen, obgleich auf eine tiefe und richtige Intuition sich gründend, werden von schweren Gebrechen befallen, wenn er nicht zuvor daran gedacht hat, sich naturkundliche Kenntnisse anzueignen. Tatsächlich ist das Wesen der bretonischen Kuh ein doppeltes. Zu gewissen Zeiten des Jahres, die der unerbittliche Ablauf des genetischen Programms auf das Genaueste festlegt, vollzieht sich in ihrem Wesen eine erstaunliche Veränderung. Ihr Muhen wird kräftiger und anhaltender, und die harmonische Struktur dieses Muhens verändert sich so sehr, dass es manchmal auf verblüffende Weise an gewisse Klagelaute erinnert, wie sie den Menschenkindern entfahren. Die Bewegungen der Kuh werden schneller, nervöser; mitunter trippelt sie. Sogar ihr Maul, das doch in seiner glänzenden Regelmäßigkeit wie geschaffen schien, um die absolute Dauer einer mineralischen Weisheit widerzuspiegeln, verzieht und verzerrt sich unter der schmerzhaften Wirkung eines übermächtigen Begehrens.

Des Rätsels Lösung ist sehr einfach, nämlich wie folgt: Der bretonischen Kuh steht der Sinn danach (und sie manifestiert auf diese Weise - der Gerechtigkeit halber sei es gesagt - das einzige Begehren ihres Lebens), <sich stopfen zu lassen», wie es in der zynischen Sprache der Viehzüchter heißt. Die Züchter stopfen die Kuh, auf mehr oder minder direkte Weise; die Spritze der künstlichen Besamung kann, wenn auch um den Preis gewisser emotionaler Komplikationen, zu diesem Zweck den Stierpenis ersetzen. In beiden Fällen beruhigt sich die Kuh und kehrt zu ihrem bedächtig meditativen Urzustand zurück, mit dem einen Unterschied, dass sie ein paar Monate später einem entzückenden Kälbchen das Leben schenken wird. Was, nebenbei gesagt, für den Züchter ein gutes Geschäft ist.   - Michel Houellebecq, Ausweitung der Kampfzone (1999, zuerst 1994)

Kuh Geräusch

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