orgengymnastik
Zeit fand statt. Ein Wecker demonstrierte es beflissen durch den
gleichmäßigen Lauf seiner Zeiger - ein geräuschloser Wecker, der in der Nacht
leuchtete, perfektioniert. Yvonne, die mit dem Gesicht zu ihm lag, betrachtete
ihn; und dann machte sie geschwind Kopfrechnen. Nachdem die Aufgabe gelöst war
(der Stundenplan für den Morgen), legte sie sich auf den Rücken und streckte
sich. Sie spürte, wie alle ihre Mus-t kein erwachten und gleich einer Meute
kleiner, lebhafter und drahtiger Jagdhunde schnaubten. Sie knöpfte die Pyjama-jacke
auf und streichelte ihre Brust, wobei sie sich nach den Ratschlägen der besten
Modezeitungen bemühte, ihre Atmung zu kontrollieren. Es war die Stunde der Leibesübungen.
Mit weiter und schauspielerischer Gebärde warf sie die Decken zurück; sprang
aus dem Bett, streckte sich, auf dem Teppich aus und begann mit verschiedenen
Bewegungen, die der Frau einen flachen Bauch, kleine und arrogante Brüste, eine
feine Taille, spindelförmige Schenkel und einen sehr festen Hintern verleihen.
Das dauerte gut zwanzig Minuten; sie strengte sich derart an, daß sie an nichts
anderes denken konnte, und die seltsamen Stellungen, die sie einnahm, riefen
in ihr keinen der schlechten Gedanken hervor, die sie einem männlichen Zuschauer
wohl eingegeben hätten. Es war übrigens nicht die einzige Pflege, die ihr Körper
verlangte; ohne von den natürlichen Verrichtungen zu reden, die bei ihr von
der gleichen Regelmäßigkeit und der gleichen Perfektion waren wie der weibliche
Rhythmus, mußte Yvonne ihn gut versorgen, diesen Körper, ihn baden, ihn duschen,
ihn parfümieren, ihm das bestmögliche Aussehen geben, ihm und seinen Ergänzungen:
den Fingernägeln, Haaren, Augenbrauen. Man mußte ihn ernähren, er hatte großen
Appetit. Man mußte ihn kleiden, was Wahl und Präzision verlangte. Man mußte
ihn betrachten, im Spiegel. Erst als sie darauf warten mußte, daß an ihren Fingernägeln
ein mehr schwärzlicher als blutiger Lack trocken wurde, hatte Yvonne ein wenig
Muße, an ein anderes Wesen als an sich selber zu denken. Und sofort war es der
junge Perdrix, der sich einstellte. Ach, von dem hatte sie nun langsam genug.
Nicht einmal Lust vermochte er ihr zu geben. Und dabei war er noch dumm. - Raymond Queneau, Mein
freund Pierrot. Frankfurt am Main 1964 (zuerst 1942)
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