Mord aus Leidenschaft  Clodomir wandte sich mit äußerster Zuvorkommenheit an Tourteau, den Schlächter, und Noualet, den Zahnarzt, um auch sie um Entschuldigung zu bitten. Er fügte hinzu: «Euch beide habe ich ausersehen, Zeugen eines Schwures zu sein . . . Ich schwöre - Sidonie, hörst du? - vor Tourteau, dem Schlachter, und Noualet, dem Zahnarzt, schwöre ich, daß ich töten werde...»

Die beiden Männer verließen Sidoniens Kammer, als kämen sie aus dem Jenseits; Clodomir folgte und hielt ihnen das Licht. An der Schwelle stießen sie auf zwei kleine Mädchen, die hereindrängten, um eine splitterfasernackte Mutter zu trösten. Zu Hause angelangt, war es ihnen, als müßten sie die Wände betasten, die vertrauten Möbel, um sich zu vergewissern, daß sie nicht gestorben seien und nun wiederkämen, um auf Erden in ihren eigenen Räumen umzugehen.

Der Unteroffizier kannte Clodomir. Er hatte mehr Angst vor ihm als alle andern, aber er zog es vor, von einer ihm bekannten Hand zu sterben, in einem bequemen Bett und um eines Weibes willen, statt um einer Idee willen in einem Gebüsch von einem Unbekannten ermordet zu werden, der, wie er sagte, «ebenso unschuldig ist wie ich». Schließlich war ihm die Vorstellung dieses Endes vertraut geworden. Er verweilte in Gedanken dabei. An den Sonntagen gar vertrieb er sich morgens die Zeit damit, die geringsten Begleitumstände sich auszumalen, wenn Sidonie ihn allein ließ und er ganz wach auf dem Bett lag, in der Kammer, wo er sterben sollte. Eines Abends jedoch hatte eine schreckliche Vorahnung sich seiner bemächtigt. Er wollte erst anderntags kommen. Sidonie ließ ihn durch ihre älteste Tochter holen. Er kam, wie ein zum Tod Verurteilter, nachdem er sich hergerichtet und sein Testament gemacht hat. Ihre Nacht war wilder, leidenschaftlicher, des kalten Schweißes wegen, der sie umkroch. Es schlug Mitternacht. Der Unteroffizier strich mit einem Finger über Sidoniens Augen. Sie schlief. Gegen drei Uhr schreckte er auf, als die Tür zum Treppenhaus ging. Und er hörte den, der jetzt näher kam, um ihn zu toten. Wie sein Herz zu pochen begann, war er drauf und dran, aus dem Fenster auf die Straße zu springen; dann aber besann er sich, daß er diese Stunde, die nun gekommen war, vorausgesehen hatte, daß er in seinen ruhigen Augenblicken den Entschluß gefaßt hatte, bequem in diesem Bett zu sterben. Ihm war warm. Er würde sich erkälten und nichtsdestoweniger auf der Straße sterben, wie ein Hund, unter den Augen der ganzen Stadt, die mit einem Schlage in einer Sekunde aufwachen würde, wenn er sie durch sein Schreien verärgerte. Die zweite Tür ging auf. Beim Schein des Nachtlichts erkannte er das bleiche, erhabene Haupt seines Mörders. Alsbald überkam ihn ein wildes Verlangen, nach dem Revolver unter dem Deckbett zu greifen, um irgend jemand zu töten oder um durch den Lärm einen Albtraum zu verscheuchen. Doch vielleicht war es zu spät. Die beiden Kleinen weinten schon in der Kammer nebenan. Da, in einer kurzen, unendlich langsamen, ermüdenden, Jahrhunderte währenden Bewegung, faltete er seine beiden Hände, die unter dem Laken einander entglitten waren und die sich als erste darein ergaben, ihn nicht zu verteidigen; dann entspannte er sachte den Nackenmuskel, um seinen Kopf in f das Kissen sinken zu lassen, der sich zu Unrecht noch behaupten, hartnäckig noch in eitler Besorgnis sich versteifen wollte.

Der Mörder hoffte immer noch, als der Unteroffizier sich schon vollständig aufgegeben hatte. Entschlossen, zu töten, fühlte Clodomir sich unglücklicher als der Unteroffizier in seiner Bereitschaft, zu sterben. Er hoffte immer noch, Si-donie möchte allein sein. Er war in einem Güterzug gereist, um zu ungewohnter Zeit einzutreffen. Wie eine Ahnung war das Gerücht ihm vorausgelaufen, man habe ihn am Vortag im Gestrüpp bemerkt. Er hatte dort vierundzwanzig Stunden verbracht. Er glaubte immer noch im Gras zu liegen, das ihm die Augenlider zerstach, als er sich über das Bett seines Weibes beugte. Sidonie war erwacht. Augenblicklich hatte sie alles erfaßt: sie stieß den lautesten Schrei ihres Lebens aus, der das Schweigen der Welt zerriß und die ganze Stadt auf die Beine brachte. Aus der klaffenden Kehle ihres Geliebten strömte das Blut. Clodomir sprach mit sanfter Stimme zu ihr: «So sollst du ihn lieben. Streichle ihn, so streichle ihn doch. Ich gehe ins Gefängnis; da ist's besser als in deinen Armen.» Sie stieß lange, gellende Klagerufe aus, die in eintöniger Folge, wie ein Rudel Hyänen, dem dumpfen Röcheln des Sterbenden folgten. Und zuweilen vernahm man auch das Schreien der beiden, in der Nebenkammer eingeschlossenen Mädchen.

Clodomir durchwanderte die Stadt unter tausend auf ihn gerichteten Augen. Alle Fenster, an denen er vorbeikam, waren mit weißen Nachthemden beflaggt, die sich unabsehbar dahinzogen wie die Tücher am Fronleichnamsfest.

Eine Viertelstunde später kehrte er nach Hause zurück, um sein Werk zu betrachten. Der Mann lebte immer noch. Sidonie hatte sich bis in die Küche geschleppt, um Wasser zu holen. Sie wusch ihm die Schläfen. Ein Duft von Veilchen durchhauchte alle ihre Verrichtungen. Als Clodomir um die Stirn eines Sterbenden dieses höchste Zeichen der Liebe verspürte, verging er in Bewunderung für Sidonie. Dennoch trat er auf den Mann zu, um ihm mit einem neuen Dolchstoß die Augen zu schließen. Da er eifersüchtig auf den Tod war, den er in diesem Veilchendurft austeilte, ergriff er die wunderbaren Arme seines Weibes und verbog sie. Einen Augenblick lang wandelte ihn wohl die Lust an, sich für immer darin einzuschließen, sie zu töten, sich zu töten, wie man Vergessen sucht, oder aber sie noch einmal über diesem Leichnam in der königlichen Trunkenheit seines Sieges schrecklich zu besitzen. Die Gendarmen kamen gerade zurecht, um ihn von diesem Stückchen abzuhalten. Er sei ihnen sehr zu Dank verpflichtet dafür, sagte er und folgte ihnen wie seinen Dienern.

Sobald Sidonie den Tod des Unteroffiziers festgestellt hatte, fand sie, daß so ein Leichnam doch recht im Wege sei. Sie schickte sich an, ihr Bett zu richten, um Haltung zu gewinnen und um auch ihrerseits die Polizei, die das Schlafzimmer bald besichtigen würde, etwas schicklicher zu empfangen.  - Marcel Jouhandeau, Der Mörder Clodomir. In: M. J., Chaminadour. Reinbek bei Hamburg 1964

 

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