Morbidität   Ich fragte Djuna Barnes: »Weshalb sind Sie nur so schrecklich morbide? Erst auf Ihren Bildern, dann in Ihren Gedichten. Ihre Erzählungen sind überwältigend selbst für den, der sich während der letzten zwanzig Jahre russische Literatur zu Gemüte geführt hat. Und nun kommt Ihr Stück. Niemand kann bestreiten, daß alles, was Sie machen, pittoresk ist, ungewöhnlich, ja selbst schön in seiner Häßlichkeit. Niemand bestreitet, daß Sie Talent haben. Doch weshalb diese Morbidität?«

»Morbide?«, war ihre bissige Antwort. »Da kann ich nur lachen. Dies Leben, das ich schreibe und zeichne und portraitiere, ist das Leben, wie es ist, und folglich nennen Sie es morbide. Sehen Sie sich mein Leben doch an! Sehen Sie sich das Leben um mich herum doch an! Wo ist denn die Schönheit, die bei mir angeblich fehlt? Wo sind die hübschen Episoden, die andere schildern? Ich meine das Leben von Menschen, denen man die Masken weggenommen hat. Wo sind denn die erfreulicheren Züge?

Oft setze ich mich zum Arbeiten an mein Zeichenbrett, an meine Schreibmaschine. Mit einemmal ist meine Freude wie weggeblasen. Ich bin das alles leid, weil ich denke: >Was hat das denn schon für einen Sinn? Heute leben wir, morgen sind wir tot. Wir sind geboren worden und wissen nicht, warum. Wir leben und leiden und plagen uns, neidvoll und beneidet. Wir lieben, wir hassen, wir arbeiten, wir bewundern, wir verachten... Warum? Und wir sterben, und niemand wird je wissen, daß wir überhaupt geboren waren.«

»Aber Djuna«, unterbrach ich sie, »das kann doch nur eine Ihrer pessimistischen Anwandlungen sein! Das können Sie doch nicht wirklich meinen. Von allen Menschen, die ich kenne, sind Sie doch diejenige, die wirklich Freude am Leben hat!«

»Freude! Das nennen Sie Freude? Wenn wir verzweifelt sind und uns einfach, um irgendetwas dagegen zu tun, jemandem an den Hals werfen, der uns wirklich nichts bedeutet, und das dann jeweils dadurch zu vergessen suchen, daß wir diesen Unfug gleich wiederholen? Dazwischen arbeiten und reden wir. Lachen hin und wieder. .. Freude? Die habe ich in den ganzen sechsundzwanzig Jahren meines Lebens nicht gekannt.«   - Guido Bruno 1919, nach: Djuna Barnes, Portraits. Berlin 1986

 

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