ißgeburt   Aphrodite habe ein derart mißgestaltetes Kind geboren — mit großer Zunge, mächtigem Bauch und übermäßigem, an Stelle des Schweifes wachsendem Phallos, wie es übrigens auch von Phanes hieß — daß sie es von sich warf, im Stich ließ, verleugnete. Als Ursache der Mißgeburt wurde Heras Neid oder Eifersucht angegeben — ein billiges und sicher nicht altes Motiv. Hera hätte den Leib der schwangeren Aphrodite mit böser Zauberhand betastet. Ein Hirt habe das eben geborene Monstrum gefunden und gleich erkannt, daß die merkwürdige Lage seiner phallischen Gestaltung — also nicht bloß das Phallische, sondern das Hermaphroditische an ihm — der Fruchtbarkeit der Pflanzen und der Tiere zugute kommen würde. - (kere)

Mißgeburt (2)

Einstmals schuf auch die Erde noch zahlreiche Wundergestalten
Wie zum Versuch, an Gestalt wie an Gliedern seltsam gebildet:
Hermaphroditen mit Doppelgeschlecht, doch zu keinem gehörig,
Manche der Füße ermangelnd und andere wieder der Hände,
Einige mundlos stumm, blind andere ohne die Augen,
Andere steif, da jegliches Glied mit dem Leib war verwachsen.
Deshalb konnte ein solches Geschöpf nichts tun noch wohingehn
Noch der Gefahr sich entziehn noch das, was es brauchte, beschaffen.
Dieses und derart mehr, Mißbildungen, scheußliche Wunder,
Schuf sie umsonst; die Natur verweigerte ihnen den Nachwuchs;
Denn zur ersehnten Blüte vermochten sie nicht zu gelangen
Noch sich die Nahrung zu schaffen noch gar sich in Liebe zu paaren.
Denn gar vielerlei muß, wie wir sehen, zusammen sich finden,
Soll sich ein sterblich Geschlecht fortpflanzen und weiter vermehren:
Erstens bedarf es der Nahrung und weiter des zeugenden Samens
In Gefäßen, durch die er sich löst aus den Gliedern und ausfließt.
Endlich bedarf es der Glieder, durch die sich die beiden Geschlechter
Können vereinen und tauschen die wechselseitigen Wonnen.

- (luk)

Mißgeburt (3) Da erschien ihm ein wahres Monstrum. Malcrêatiure, so hieß der rasant schöne Knappe. Cundrie la surziere, die Hübsche, war seine Schwester, und er sah genauso aus wie sie, nur daß er eben ein Mann war. Ihm standen auch sämtliche Zähne wie einem wilden Eber im Gesicht und nicht wie sonst bei Menschenkindern. Sein Haar aber war nicht so lang wie das der Cundrie, das bis auf das Maultier nieder baumelte; kurz und spitzig wie eines Igels Fell war es. Bei dem Wasser Ganjas im Land Tribalibôt mißwachsen Menschen so, und zwar aus folgendem Grund: Unser Vater Adam bekam von Gott diese Kunst geschenkt: Er gab allen Dingen ihre Namen, den wilden und den zahmen. Er kannte auch das Wesen jedes Dings, dazu noch die Bahnen der Sterne, der sieben Planeten und was die für Kräfte haben; er kannte auch alle Kräuter, ihre Potenzen und die Art eines jeden. Als seine Kinder mit den Jahren jene Kraft gewannen, die fruchtbar wird mit Menschenfrucht, da warnte er sie vor der Gier: die ist nie zufrieden. Immer wenn eine seiner Töchter schwanger war, erinnerte er sie daran, und er wurde nicht müde, sie immer wieder darauf aufmerksam zu machen, daß es viele Pflanzen gebe, die sie meiden mußten, jene nämlich, die Menschenfrucht mißraten machten und Schande in seine Familie brächten. »Solche Mißgestalten hat Gott nicht gemeint, als er sich hinsetzte, um mich zu machen«, sprach er. »Meine lieben Kinder, seid nicht blind für euer Glück!« Die Frauen aber taten so, wie halt die Frauen tun: Da waren einige, denen riet ihr schwaches Fleisch, und danach handelten sie dann, wie es ihres Herzens Gier eben einfiel. So entstanden monströse Menschenwesen.   - Wolfram von Eschenbach, Parzival. Frankfurt am Main 1993 (zuerst ca. 1200, Übs. Peter Knecht. Die Andere Bibliothek 100)

Mißgeburt (4) Überall in Indien sieht man Mißgeburten, aber in Kalkutta muß man sich mit ihrem Dasein auseinandersetzen und es zum Thema der Überlegungen über diese Daseinsform machen. Wir Europäer, so habe ich gehört, sind freizügig: Alkohol, Drogen, Genitalien. Und wie halten wir es mit den »Mißgeburten«? Haben wir die Häuser geöffnet, wo wir sie versteckt halten? Die Mißgestalteten, die aufgeschlitzten Gliedmaßen, die zerfetzten Lippen, die Arme, die sich am Ellbogen spalten, die Beine, die zu einem riesigen Elefantenfuß zusammengerollt sind, und das Monstrum, das ich in Madras sah, normal bis zur Taille und dann nur noch eine Sphinkterblume mit fadenförmigen Beinchen ringsherum? Man hat mir erzählt, daß man eine dieser Mißgeburten in einem Tempel gemalt hat, um ihre Anmut überzeugender zu machen. In Indien ist die Mißgeburt »zu Hause«. In diesem Land, das kein Grauen kennt, kann der Grauen erweckende Mensch heraustreten aus unserem geistigen Ghetto, aus unseren Alpträumen, und sich vor unsere Füße schleppen. Abends nach dem Essen ging ich unter den Mißgeburten spazieren: Spinnen aus Fleisch, tote Beine, pflanzenhafte, verschlungene Arme, höhlenförmige Münder in einem Knorpelkopf, Okarinen für Gestöhn und Todeskampf. Welcher Friede, welche Ehrlichkeit in diesem Verkehr mit dem Monströsen. Nichts in unserer Welt ist monströser als die Ablehnung des Monströsen. Schließt die Mißgeburten ein in ihr Ghetto, wir dürfen sie nicht sehen, es gibt sie gar nicht, sie sind unmöglich. Das gesamte Universum ist unmöglich, und das weiß man hier in Indien. Der Name Kalkutta kommt von der Macht der Göttin Kali, die hier ihren großen Tempel hat, dieses heilige Bild ist in einem die Töterin und die Helferin der Elenden: es ist die MUTTER, eine Gottheit, die das Blut und das Mitleid, die Grausamkeit und die Sanftmut bewohnt; sie wird nicht verehrt, weil sie schrecklich ist, sondern weil sie in ihrer Mischung aus Schrecklichkeit und Liebe wie sonst keine der Anbetung würdig ist. Sie haust in der Mitte der Welt, wo es nichtig ist, das Leben vom Tod, die Tötung von der Erschaffung zu unterscheiden. Ihr Tempel ist voll Aussätziger, beschmiert mit dem Blut der enthaupteten Zicklein. - Giorgio Manganelli, Das indische Experiment. Berlin 2004 (zuerst 1992)

Mißgeburt (5)  Ein Sach ist, daß die Frauen in den Werken der Unkäusch sich nicht recht haben und sich hin und her bewegen, daß sich der Same des Mannes teilt in der Frauen Klausen; und teilt sich der gleich unten und oben, so werden Zwienlein daraus und die mehren sich darnach. Teilt aber der Samen sich oben und nieden nicht, so wird ein Mensch daraus mit zwei Häupter und mit einem Niederteil. Teilt aber sich der Same unten und nicht oben, so wird ein Mensch unten gespalten und nicht oben.   - Konrad von Megenberg, nach (erot)

Mißgeburt (6) Wie geh ich Euch ein treuliches Abbild der Spottgeburt, welche ich mit so unendlicher Mühe, und Sorgfalt zu formen versucht? Wohl waren die Gliedmaßen in der rechten Proportion, und auch die Züge hatte ich dem Kanon der Schönheit nachgebildet Schönheit! -Allmächtiger! Die gelbliche Haut verdeckte nur notdürftig das Spiel, der Muskeln und das Pulsieren der Adern. Das Haupthaar war freilich von schimmernder Schwärze, und wallte überreich herab. Auch die Zähne erglänzten so weiß wie die Perlen. Doch standen solche Vortrefflichkeiten im schaurigsten Kontraste zu den wäßrigen Augen, welche nahezu von derselben Farbe schienen wie die schmutzigweißen Höhlen, darein sie gebettet waren, sowie zu dem runzligen Antlitz und den schwarzen, aller Modellierung entbehrenden Lippen. Oft genug hatte ich in dies Antlitz gestarrt, solange es noch nicht vollendet gewesen, und schon, damals war es mir häßlich genug erschienen. Als aber seine Muskeln und Scharniere sich zu bewegen begonnen, war ein Etwas aus ihnen geworden, wie es nicht einmal ein Dante hätte aussinnen können.   - Mary Shelley, Frankenstein oder Der moderne Prometheus. Nach (enc) 

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