Misanthropenrhetorik  «Ich beneide weder dich noch unseren Zeitungsdirektor, noch den Präsidenten der Republik, noch den Wursthändler Felix Potin, der der größte Wursthändler von Paris ist. Ich arbeite, weil ich jeden Monat notwendig zweitausend Francs in der Tasche haben muß; aber die Arbeit als solche will ich nicht adeln, weder durch Begeisterung noch durch Neid oder Wetteifer. Das Leben ist nur ein kurzes Antichambrieren, bevor wir in das Nichts eintreten. Wer denkt daran, in den Vorzimmern zu arbeiten? Man plaudert, man betrachtet die an den Wänden hängenden Bilder und wartet, daß die Reihe an uns kommt. Aber arbeiten! Das hat keinen Zweck, denn sind wir erst im Jenseits angelangt, werden wir nichts mehr davon haben. Ich begreife nicht, wie alle diese Leute sich aufregen, sich zanken und streiten können. Einer spielt den Helden, ein anderer fordert das Volk heraus, ein Dritter gefällt sich als Bramarbas, als Eisenfresser; einer entwickelt Ideen, der andere reißt Systeme nieder, und wieder ein anderer stürzt Werte. Aber zu welchem Zweck? Wenn du bedenkst, daß ein Triumphator, der heute die Massen in seiner Gewalt hat, morgen in ein Café geht, aus einem schlecht gespülten Glas trinkt, zwei oder drei Bazillen, höchstens einen tausendstel Millimeter lang, schluckt und zurück zu seinem Schöpfer kehrt! Um wieder auf dich zurückzukommen: wenn ich eines Tages zu irgend jemand sagen sollte, daß du ein Kretin bist, so müßte ich diesen anderen für intelligent halten. Hingegen sehe ich um mich nur Leute, die sich anders zeigen, als sie sind: Sie entwickeln Ideen, die sie nicht haben, bekunden Überzeugungen, die nicht die ihren sind, machen schöne Gesten und sagen schöne Phrasen, um dahinter Unfähigkeit und Inferiorität zu verstecken. Wer im Winter keinen Überzieher trägt und behauptet, daß es gesünder sei, würde einen schönen Pelz, wenn er ihn besäße, selbst im Bett tragen; wer den Misanthropen spielt, den Einsamkeitssucher, der ist hundert zu eins ein Mensch, mit dem niemand umgehen will; wer systematisch schweigt und versucht, den Eindruck hervorzurufen, als sei er in unbestimmte philosophische Reflexionen versunken, ist kein von der Skepsis gekreuzigter Gehirnmensch, sondern ein Tropf, der eine leere Pneumatik im Gehirn hat. Wenn jemand mir sagt, daß er vom taedium vitae befallen sei, daß ihm alles zuwider, die Welt ihm zum Ekel, das einzige Glück der Tod sei, so fange ich erst an, ihm zu glauben, wenn er sich eine Kugel in den Kopf geschossen und man ihn begraben hat. Aber bevor nicht ein Kubikmeter Erde seinen Leib deckt, glaube ich noch, daß er die Komödie des Pessimismus spielt...»    - Pitigrilli, Kokain. Reinbek bei Hamburg 1988 (rororo 12225, zuerst 1922)
 
 

Misanthrop Rhetorik

 

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