Minderheitenschutz  Der spektakuläre Auftritt des knochenlosen Douglas Douglas Jr. im amerikanischen Fernsehen rief innerhalb kürzester Zeit alle möglichen Randexistenzen des nationalen Showgeschäfts auf den Plan. Schlangenmenschen und Torsionisten, Liliputaner und Spinnengestalten, kurzum alles, was bequem in eine Kanalöffnung paßte, traf in buntbemalten Bussen und Wohnwagen in Polar ein. Sie wurden dort von Hilfskräften der Bundespolizei in Empfang genommen und auf der Bundesstraße 64 in Richtung Langlade in ein fünfzehn Meilen entferntes Camp gebracht, das schon nach wenigen Tagen aussah wie die Müllhalde sämtlicher André-Heller-Projekte.

Die Lage war heikel. In einem Land, in dem man dazu übergegangen war, einen kurzen Menschen als „vertikal herausgefordert" und etwas Langweiliges als „reizfrei" zu bezeichnen, konnte man die freiwilligen Hilfsangebote einer ganzen Bevölkerungsgruppe nicht einfach ablehnen, ohne dabei Gefahr zu laufen, bekannte, registrierte und organisierte sowie bislang noch unbekannte Minderheiten zu diskriminieren.

Ganze vom Aussterben bedrohte Berufszweige witterten ihre letzte Chance. Wenn in immer mehr Staaten, um ein Beispiel zu nennen, das Zwergenwerfen verboten wurde, so konnte doch niemand etwas dagegen haben, daß man einen Zwerg in Richtung einer Kanalöffnung warf, damit dieser dort den Zugang zu der Farm einer gefährlichen Sekte erforschen konnte. Ein Mann, der sich trotz seiner Einszweiundneunzig so zusammenzufalten verstand, daß er bequem in der Verpackung eines Videorecorders Platz fand, und zwar zwischen den Styroporeinsätzen, schlug vor, ihn als Päckchen getarnt auf der Veranda der Ranch abzulegen. Ein zweiter Houdini wollte sich in Eisenketten legen lassen, mit dem Argument, daß ihn die Sektenmitglieder als ungefährlich genug erachten würde, um ihn ins Haus zu holen.

Man hatte ein Komitee eingerichtet, daß sich auf dem Platz geduldig alle Vorführungen und Kunststückchen ansah, um die Artisten anschließend mit dem Versprechen, sie umgehend zu verständigen, wenn man sie brauchte, wieder nach Hause zu schicken. Obwohl man in abwechselnden Schichten und rund um die Uhr arbeitete, wurde man des Ansturms nicht Herr. Im Gegenteil: ein gesellschaftliches Problem drohte aufzubrechen. Die durch die Verbreitung des Fernsehens verdrängten Varieté- und Zirkuskünstler klammerten sich mit dem selbstlosen Einsatz ihres geschulten Körpers an ihre vielleicht letzte Möglichkeit, noch einmal im Rampenlicht zu stehen.

In ihrem Schlepptau kam eine Reihe von Menschen, bei denen der gute Wille das künstlerische Vermögen übertraf. Ein Mann, der einen Ventilator mit der Zunge anhielt. Eine Frau, die ihren Büstenhalter unter ihrer Bluse ausziehen konnte. Ein Junge, der die Einzelteile eines ganzen Fahrrads aufaß. Ein anderer Junge, der aus einer Handvoll in die Luft geworfener M&Ms ein rotes mit der Zunge auffing. Eine Frau, die ihre Augäpfel erschreckend weit aus den Höhlen holte. Ein Mann, der Zigarettenqualm aus den Ohren blies.

Da das Komitee in seinen Ablehnungen zu vorsichtig war, wurden die Kriterien immer verschwommener und lockten immer mehr Menschen an. Männer, die verschiedene Biersorten am Geschmack erkannten. Frauen, die alle Songs der Three Degrees, auf Wunsch auch rückwärts, vorsingen konnten.  - Frank Witzel, Blue Moon Baby. Hamburg 2015 (Edition Nautilus, zuerst 2001)

 

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