Milz  Halten wir die Milz in Reserve! Wenn wir zum Beispiel der Zeit auf die Sprünge kommen, kann das die Milz übernehmen. Da hat sie zu tun ohne sich zu überanstrengen. Aber wie ich die Milz kenne, wird sie wieder alles den Geisteswissenschaften überlassen wollen und das gibt Ärger.

Die Milz ist ein faules Organ. Komm, alte Milz, sag mir, was ich am Eschersheimer Tor gesagt habe. Das Eschersheimer Tor habe ich nicht aufgenommen, es steht außerhalb meines Lebens. Gewiß gibt es Punkte auf der Welt, die ich milzähnlich verwende, ich weise ihnen Funktionen zu, sie übernehmen mein Gedächtnis, so habe ich mich auf vier Kontinenten eingerichtet, muß fleißig herumfahren, um alles beisammen zu haben. Aber das Eschersheimer Tor? Ich weiß nicht einmal, ob es nicht Turm heißt.

Was sagte ich am Eschersheimer Turm? Ariadnefaden, Leuchtfeuer? Orientierung braucht man nicht nur in Frankfurt. Schon die Oder kann zu Irrtümern verleiten. Ach liebe Milz, erinnere dich an die Oderbuhnen, bring alles durcheinander! Es ist so selten, daß man alles in einem Punkt beisammen hat, in einem zugespitzten Augenblick, der den ganzen Bleistift enthält.

Am Eschersheimer Turm sagte ich was ich immer sage. Aber dort sprach ich es aus, wie man mir sagt. Ich sprach es am Eschersheimer Turm aus wie in Kyoto und Vezelay, — zwei meiner Milzorte. Einmal ausgesprochen ist für immer gesagt, zu meinem Leidwesen. Man möchte manches wieder einatmen und in der Milz hinterlegen, ziemlich tief links außen, man möchte seine bescheidenen Geheimnisse behalten.  - (eich)

Milz (2)  Keine Angst, hier sind Sie in guten Händen, das Europa ist das beste Krankenhaus, hier finden sie immer etwas. Bei mir ist es die Milz. Ist es nicht seltsam? Ausgerechnet die Milz. Sie werden jetzt fragen, warum ist das seltsam? Sagen Sie mir, was macht die Milz, was ist ihre Aufgabe? Sehen Sie! Sie wissen es nicht. Niemand weiß das, fragen Sie Ihre Freunde, Ihre Bekannten, fragen Sie Menschen auf der Straße. Die Leber, ja! Das Herz, sowieso! Die Lunge, die Nieren, man muss nicht Medizin studiert haben, um zu wissen, was diese Organe tun, was ihre Funktion ist. Aber die Milz - na sagen Sie schon: Was ist die Aufgabe der Milz? Sehen Sie, das ist doch eigenartig! Die Milz fuhrt ein Schattendasein. Dabei könnten all die anderen Organe, über die wir glauben Bescheid zu wissen und die wir für so wichtig halten, auf Dauer gar nicht arbeiten, wenn die Milz nicht wäre. Die Milz kontrolliert alle anderen Organe, weiß alles, überprüft sie ununterbrochen. Sie wehrt Krankheiten der anderen Organe ab, entfernt schädliche Partikel aus dem Blut, speichert weiße Blutkörperchen, die sie bei Bedarf ausschüttet, man kann sagen: aussendet wie eine Eingreiftruppe. Das Herz merkt nicht, wenn die Leber ein Problem hat, oder umgekehrt, die Nieren versuchen ihren Job zu machen, egal ob die Lungenfunktion eingeschränkt ist oder nicht, aber die Milz, die merkt alles von allen und reagiert auf alle. Und alles, was die Milz tut, nehmen die anderen Organe wahr. Sie ist der große Kommunikator, zugleich der Geheimdienst, den keiner beachtet. Und warum beachtet keiner die Milz? Warum weiß keiner, was die Milz tut? Genau deshalb: weif sie in der Regel nicht auffällig wird. Die Milz ist das Organ, das nur ganz selten Probleme bereitet. Sie löst die Probleme anderer Organe, sie wehrt nach Möglichkeit deren Krankheiten ab, aber selbst wird sie so gut wie nie krank. Wissen Sie, was ich glaube? Ich glauBe, dass wirklich etwas dran ist an dieser Theorie von der Psy-chosomatik. Das ist mein Verdacht. Sie können sich noch so gesund ernähren, Sie werden magenkrank, wenn Sie im übertragenen Sinn immer etwas runterschlucken müssen, verstehen Sie, was ich meine? Ja, das ist bekannt.

Sehen Sie. Und bei mir ist es die Milz. Kein Zufall. Ich bin sozusagen beruflich eine Milz, und vor einiger Zeit habe ich bemerkt, ich schaffe es nicht mehr, ich konnte nicht mehr akzeptieren, was meine Aufgabe war, und -Sie sind beruflich ... was? Ich meine, Milz ist kein Beruf. Brunfaut stöhnte.

Ich arbeite in der Europäischen Kommission, sagte Geronnez, in der ECFIN, das ist die Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen. Ich bin verantwortlich für die Kommunikation. Ich bin sozusagen zwischen den verschiedenen Organen der Kommunikator, der im Schatten steht. Ich muss zusammenhalten und koordinieren, was da jeder vor sich hin arbeitet, alles aufbereiten und nicht zuletzt die Reden schreiben, mit denen der Kommissar das nach außen vertritt. So, und jetzt stellen Sie sich einen Organismus vor, die Lunge schwer belastet vom Kettentauchen, die Leber von Alkoholexzessen, der Magen von Lebensmittelchemie, und Sie sollen das alles entgiften - und die Reden schreiben, mit denen der Mund verkündet, dass alles insofern in bester Ordnung ist, als die größten Anstrengungen unternommen werden, ein besseres Funktionieren des Organismus zu gewährleisten, zum Beispiel dadurch, dass zur Einsparung des Nägelschneidens nun alle Finger amputiert werden.  - Robert Menasse, Die Hauptstadt. Berlin 2017

 

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