ickrig   Der Mord hatte sich unter Polen in einer schmutzigen Wohnung in der Nähe der Porte d'Italie ereignet. Ein Hilfsarbeiter, der schlecht Französisch sprach, ein ziemlich mickrig wirkender Mensch, der mit Vornamen Stephan hieß und dessen Familienname sich nicht aussprechen ließ, lebte dort mit einer Frau und vier kleinen Kindern. Lucas hatte die Frau gesehen, ehe man sie ins Krankenhaus gebracht hatte. Er sagte, sie wäre ein wunderbares Geschöpf. Sie war nicht die Ehefrau des verhafteten Stephan, sondern des Landsmanns Majewski, der sich seit drei Jahren als Landarbeiter auf Höfen im Norden herumtrieb. Die beiden ältesten der Kinder waren von Majewski. Es war schwer, herauszufinden, was zwischen den beiden Männern und der Frau vor drei Jahren vorgegangen sein mochte.

»Er hat sie mir geschenkt«, sagte Stephan beharrlich immer wieder. Einmal hatte er sogar behauptet: »Er hat sie mir verkauft.«

Jedenfalls hatte vor drei Jahren der mickrige Stephan den Platz seines Landsmanns in der Höhle und im Bett der schönen Frau eingenommen. Der rechtmäßige Mann war, wie es schien, bereitwillig fortgezogen. Zwei weitere Kinder wurden geboren. Die ganze Familie lebte in einem einzigen Zimmer, wie Zigeuner in ihrem Wohnwagen.

Eines Tages war Majewski dann plötzlich zurückgekehrt, und während der andere bei der Arbeit war, hatte er ganz einfach seinen alten Platz wieder eingenommen.

Was hatten sich die beiden Männer nach Stephans Rückkehr gesagt? Lucas bemühte sich, es festzustellen. Das war besonders darum schwierig, weil der Mann fast ebensowenig Französisch sprach wie das spanische oder südamerikanische Mädchen, das Maigret am Tag zuvor verhört hatte.

Stephan war weggegangen. Er war fast vierundzwanzig Stunden lang in dem Viertel umhergestrichen, hatte nirgendwo geschlafen, hatte zahlreiche Bistros aufgesucht und sich dann irgendwo ein scharfes Schlächtermesser beschafft. Er behauptete, es nicht gestohlen zu haben, und blieb fest dabei, als wäre das für ihn eine Ehrenfrage. In der vorhergegangenen Nacht hatte er sich in das Zimmer geschlichen, wo alle schliefen, und hatte den Mann mit vier oder fünf Messerstichen getötet. Er hatte sich dann auf die Frau gestürzt, deren Busen entblößt war, hatte zwei- oder dreimal zugestochen, aber noch ehe er sie umgebracht hatte, waren Nachbarn herbeigeeilt gekommen. Ohne Widerstand zu leisten, hatte er sich festnehmen lassen.

Maigret hatte einem Teil des Verhörs im Büro von Lucas, der an der Schreibmaschine saß und langsam die Fragen und Antworten tippte, beigewohnt.

Der Mann saß auf einem Stuhl und rauchte eine Zigarette, die man ihm gegeben hatte. Neben ihm stand eine leere Kaffeetasse. Die Nachbarn hatten ihn übel zugerichtet. Der Kragen seines Hemdes war zerrissen, die Haare hingen ihm wirr in das zerkratzte Gesicht. Mit gerunzelter Stirn hörte er Lucas zu, bemühte sich, ihn zu verstehen, dachte nach und wiegte immer wieder den Kopf von links nach rechts und von rechts nach links.

»Er hatte sie mir geschenkt«, wiederholte er schließlich, als ob das alles erklärte. »Er hatte nicht das Recht, sie mir wieder wegzunehmen.«

Es schien ihm ganz natürlich, daß er seinen ehemaligen Kameraden getötet hatte. Er hätte auch die Frau getötet, wenn man nicht noch zur Zeit eingegriffen hätte. Hätte er die Kinder ebenfalls getötet? Auf diese Frage antwortete er nicht, vielleicht weil er es selber nicht wußte. Er hatte nicht alles vorausgesehen. Er hatte einfach beschlossen, Majewski und die Frau umzubringen.  - Georges Simenon, Maigret und die braven Leute. München 1971 (Heyne Simenon-Kriminalromane 69, zuerst 1962)

Mickrig  (2)
 

 


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