Metaphysik der Hose   Der schlafende Salvatore Dulcimascolo hatte die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit Carlos gerade als schlafender und personenhafter Körper auf sich zu ziehen.

Carlo betrachtete das schwarze Haar, das so dicht gewachsen war, daß es an das unbändig aufschießende Gras erinnerte, das in diesem Maimonat überall neu hervorgekommen war, als wäre dies zum erstenmal in der Geschichte der Welt geschehen; die schmale Stirn, die unregelmäßigen, leicht animalischen Gesichtszüge, unangenehm fast, doch gleichzeitig erfüllt von der Schönheit der Gesundheit und der Sexualität, die wie ein teures Gut ererbt waren; die leichte Hakennase, den viel zu fleischigen Mund, die über den Backenknochen gespannten Wangen; den für einen Süditaliener ziemlich langen, aber nicht schlanken Körper, seine raubkatzenhafte, stämmige Kraft entsprach der eines braunhäutigen Jungen, der im Alter von der Magerkeit aufgefressen oder, und das ist wahrscheinlicher, von der Fettleibigkeit der Armen verunstaltet wird; und da waren der Bauch und der Schoß, jene Zonen des Körpers, an denen zu verweilen Carlos Blick sich am heftigsten sträubte, und sei es auch nur flüchtig, wo er aber jetzt, mit noch größerem Schuldbewußtsein, weil er es ja im verborgenen tat, verweilte. In diesem Schoß lag die Reinheit und Unantastbarkeit, die von der Hose armer Jungen besiegelt wird, als wäre ihr Geschlechtsteil der schöpferischen Anmut näher oder jedenfalls der Urform ähnlicher als jedes andere: die zu Recht bestehende vollkommene Wiederholung einer Gabe, die den Bürgerlichen so mühevoll gewährt wird (und, sofern sie gewährt wird, sofort Anlaß zum Leiden, zum Ertragen gibt, wie etwas Unverdientes, Korruptes, Verkommenes). Die vollkommene Wiederholung eines fehlerlosen Mechanismus, auf gleichem Niveau mit | ganz und gar würdig | der Natur, die ihn in dieser Weise festsetzt und haben will. Zwischen der kulturellen Sexualität der Hose - mit einem gewöhnlichen Reißverschluß zugemacht, als handele es sich um ein Siegel - und der natürlichen Sexualität des Körpers, in dem man die vom Gebrauch der Hose herrührende Form erkennen konnte, bestand eine harmonische, vollkommene Beziehung: in ihr gab es nichts, das gegen oder für die Scham war; die Schamlosigkeit war keusch und die Keuschheit schamlos, das Wunder war knapp und gewöhnlich, und die Knappheit und Gewöhnlichkeit waren wunderhaft. Jetzt, im Schlaf auf harter, mit heiligem Gras bewachsener Erde, vielleicht auf Grund eines Traums oder auf Grund einer nicht zurückzuhaltenden jugendlichen Sexualität, war sein Glied erigiert: Carlos in der Theorie unerfahrenen, in der Praxis aber wie die einer Nutte erfahrenen Augen erkannten das sofort, und die Wahrnehmung des Bilds formulierte sich in ihm nach seiner Gewohnheit wortlos und unbewußt: wie auch die Überlegung, daß es sich um ein stärkeres und größeres Glied handelte als die, die Carlo für durchschnittlich hielt, womit er der mythischen Vorstellung treu blieb, die sich der normale Bürgerliche, sich selbst uneingestanden, vom proletarischen Geschlechtsteil machte. Die an dieser Stelle entlang des Reißverschlusses leicht durchgescheuerte Hose - eine etwas trübe, etwas fahle Abnutzung, wenn auch kaum wahrnehmbar — hatte, weil die Position des auf dem Rücken liegenden Körpers gespannt und im Schlaf gleichzeitig entspannt war, nicht die undefinierbare Wölbung, die sie bei aufgerichteter, stehender Körperhaltung hat - eine sich ständig verändernde, bewegliche Wölbung, die die Mächtigkeit des Geschlechts zweideutig sichtbar macht und trotzdem seine eigentliche Form und Dimension unsicher erscheinen läßt; noch hatte sie die beinahe geometrische Wölbung, die sie erhält, wenn der Körper sitzt oder gebeugt ist, dreieckig im ersten Fall, zylindrisch waagerecht im zweiten, in beiden Fällen aber nicht eindeutig zu erkennen: jetzt dagegen war es eine gestaltlose und daher ungeschützte Wölbung: die Form, die sich darunter verbarg, war in ihrer entwaffnenden Unschuldigkeit nahezu auf vollkommene Weise ablesbar. - Pier Paolo Pasolini, Petrolio. Berlin 1994

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