Messerchen  Der Ring des Riesen rollte ins Gras und glänzte wie ein Wurm aus gleißendem Licht. Das Mädchen, das eine Falle befürchtete, starrte ihn an, kam aber nicht näher. Der Riese hatte sich seelenruhig vor seine Haustüre gesetzt. Der Ring glänzte so hell und war so hübsch anzusehen, daß das Mädchen nicht widerstehen konnte, denn ihr Lebtag hatte sie dergleichen nicht erblickt. So trat sie vorsichtig heran, um ihn aufzuheben. Sobald sie danach gegriffen hatte, schlüpfte ihr der Ring auf den Finger. Die arme Kleine starrte ihn entzückt an, doch im selben Augenblick begann der Ring zu singen:

»Hier bin ich! Hier bin ich!«

Der Riese hörte es, sprang auf, so daß das Haus und der ganze Wald erbebten, und rannte hinter dem Mädchen her. Er brüllte und schwor, sie mit Haut und Haaren zu verschlingen, ohne sie vorher zu kochen. Und der Ring sang:

»Hier bin ich! Hier bin ich!«

Das Mädchen versuchte mit aller Macht, ihn vom Finger zu ziehen, aber es gelang ihr nicht. Sie rannte, bis sie zu einem reißenden Fluß gelangte, und der Riese, der der Stimme des Rings folgte, wollte sich schon auf sie stürzen. Da es unmöglich war, den Fluß zu überqueren, fiel dem Mädchen in ihrer Verzweiflung das Messerchen ein, das sie immer bei sich trug, um die Zweige, die sie im Wald sammelte, von Blättern zu befreien. Geschwind holte sie es hervor, klappte es auf und schnitt sich mit einem Hieb den Ringfinger ab. Dann warf sie ihn ins Wasser. Auch noch im Wasser schrie der Ring: »Hier bin ich! Hier bin ich!«

Der Riese folgte der Stimme und fiel in den Fluß, der so reißend war, daß er den Riesen in einen gewaltigen Strudel zog, der ihn im Nu verschlang.  - Spanische Hunger- und  Zaubermärchen.  Hg. José Maria Guelbenzu.  Frankfurt am Main  2000  (Die Andere Bibliothek 183)

 

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