Mauerklammer  Ich bekam plötzlich Lust, an dieser verwitterten Mauer emporzuklettern. Die vielen Löcher, die vorkragenden Ziegel, die Eisenklammern, die da und dort Sprünge zusammenhalten sollten, das alles bot bequeme Halte. Ich dachte gar nicht daran, bis zum Dach hinaufzuklettern. Ich wollte mir nur ein wenig Bewegung machen. Wenn man will - ein etwas jungenhafter Wunsch.

Ohne jede Schwierigkeit zog ich mich an dem Pflaster eines zugemauerten Tores ein paar Meter hoch. Bei dem Architrav angelangt, griff ich mit der rechten Hand nach einem in die Mauer eingelassenen Gitter, das aus sternförmig angeordneten Eisenstäben bestand und den oberen Abschluß des ehemaligen Tores bildete. Wahrscheinlich hatte sich einst in der Nische hinter diesem Gitter ein Heiligenbild befunden.

Ich erfaßte einen der Eisenstäbe und wollte mich daran emporziehen, aber unter meinem vollen Gewicht brach er ab. Vergebens suchte ich mit der Linken nach einem Halt. Ich verlor das Gleichgewicht, ließ mich fallen und landete auf meinen Füßen. Zum Glück handelte es sich nur um ein paar Meter, so daß mir trotz des heftigen Aufpralls nichts geschah. Der abgebrochene Eisenstab fiel mit mir zu Boden.

Fast zur gleichen Zeit löste sich ein zweiter, längerer Stab, der zu einer Art Balustrade emporgeführt hatte und der offenbar nachträglich eingefügt worden war, um diese abzustützen. Die Balustrade — eine Steinplatte in der Breite von drei Ziegeln — senkte sich daraufhin ein wenig. Ihres Haltes beraubt, hing sie bedrohlich vornüber, ohne jedoch abzustürzen.

Damit war die Sache noch keineswegs zu Ende. Die Balustrade hatte einem Balken von etwa anderthalb Metern Länge als Unterlage gedient, und dieser alte Balken wiederum stützte eine Art Altan. Er war einfach unten und oben eingefügt, nicht sauber an der Mauer befestigt gewesen. (Erst jetzt erkannte ich die Einzelheiten dieser ganzen unsoliden Konstruktion, die sich bisher nicht so recht von der riesigen Wandfläche abgezeichnet hatte.) Als daher die Balustrade nachgab, dauerte es nur zwei oder drei Sekunden, bis der Balken sich vornüberneigte. Ich konnte gerade noch rechtzeitig beiseite springen, sonst wäre er mir auf den Kopf gefallen. Mit dumpfem Aufschlag landete er auf dem Boden.

War das alles? Vorsichtshalber zog ich mich in der Richtung meiner Begleiter zurück, die etwa dreißig Meter von mir entfernt waren. Sie standen da, mir zugewandt, sahen mich jedoch nicht an. Mit einem Gesichtsausdruck, den ich nie vergessen werde, starrten sie zu der Höhe der Mauer über mir empor. Plötzlich schrie mein Schwager: »Guter Gott! Schau doch!«

Ich wandte mich um. Oberhalb des kleinen Altans war in der Fassade, die dort ganz kompakt und regelmäßig ausgesehen hatte, plötzlich eine Ausbuchtung entstanden — wie in einem gespannten Stück Stoff, gegen das von hinten gedrückt wird. Zugleich lief ein leichtes Beben über die Wandfläche hin. Einzelne Ziegel lösten sich aus dem Verband und hinterließen die verfaulten Zähne dieses Mauerwerks. Zwischen rieselnden Staubfäden tat sich ein finster gähnender Sprung auf.

Hatte das alles Minuten oder nur ein paar Augenblicke gedauert? Ich weiß es nicht. Und jetzt — nennt mich ruhig einen Narren — kam aus dem Bauch des riesigen Gebäudes ein trauriges Grollen, das in sonderbarer Weise an den Ton einer Trompete erinnerte. Und im selben Augenblick begannen überall ringsum die Hunde zu heulen.

Von dem, was nun geschah, sind mir nur zusammenhanglose Bilder in der Erinnerung geblieben: Ich sehe mich aus Leibeskräften laufen, um meine Gefährten einzuholen, die schon in voller Flucht sind. Ich sehe die Frauen am Straßenrand aufspringen, höre sie schreien, sehe, wie eine von ihnen sich vor Angst auf dem Boden wälzt; ich sehe ein halbnacktes Mädchen, das sich ganz hoch oben neugierig aus dem Fenster beugt, während sich unter ihr bereits der Abgrund auftut; ich sehe den Bruchteil einer Sekunde lang - was für eine Vision! -, wie die ganze Mauer in sich selbst zusammenbricht. Und jetzt gerät hinter der zerreißenden Front der Baliverna auch die ganze übrige Masse des Riesenbauwerks bis jenseits des Innenhofes ins Schwanken, so, als zöge eine unwiderstehliche Gewalt alles und jedes in die Tiefe.

Ein schauerlicher Donner wurde laut, wie wenn Hunderte von Bombern gleichzeitig ihre Lasten abwerfen. Die Erde erbebte. Mit unglaublicher Schnelligkeit wälzte sich eine gelbliche Staubwolke heran und verhüllte das ganze gespenstige Grab.

Ich sehe mich dann auf dem Heimweg, gejagt von dem einen Wunsch, diese Unglücksstätte so schnell wie möglich hinter mir zu lassen. Die Menschen, die bereits auf unerklärliche Weise von der Katastrophe erfahren haben, starren mich entsetzt an, wahrscheinlich, weil meine Kleider über und über mit Staub bedeckt sind. Nie werde ich die Blicke meines Schwagers und seiner beiden Töchter vergessen. Grauen und Mitleid lag in diesen Blicken - so wie man einen zum Tode Verurteilten ansehen mag.   - Dino Buzzati, Die Maschine des Aldo Christofari. Frankfurt am Main 1985

 

Klammer

 

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