ann,
kindlicher
In ihm war hauptsächlich der animalische Mensch entwickelt.
In physischer Ausdauer und Zufriedenheit war er verwandt mit der Fichte und
dem Felsen, Ich fragte ihn manchmal, ob er abends nicht müde
sei, nachdem er so den ganzen Tag gearbeitet habe; dann antwortete er mit einem
offenen, ernsten Blick: »Potzdonner, in meinem ganzen Leben war ich noch nicht
müde.« Aber der intellektuelle oder geistige Mensch in ihm lag im Schlummer
wie bei einem kleinen Kind. Er war auf jene harmlose, unwirksame Weise unterrichtet
worden, wie sie der katholische Priester den Eingeborenen gegenüber anwendet,
durch welche der Schüler nie zu einem gewissen Grad von Bewußtsein, sondern
nur zu einem gewissen Grad von Vertrauen und Ehrfurcht
erzogen wird und durch welche das Kind nicht zum Manne
wird, sondern Kind bleibt. Als die Natur ihn schuf, gab sie ihm als Mitgift
einen starken Körper und Zufriedenheit und stützte
ihn auf jeder Seite mit Ehrfurcht und Zuversicht, daß er seine siebzig Jahre
verleben möge als ein Kind. Er war so einfach und unverfälscht, daß sein Nachbar
mit ihm nicht näher bekannt werden konnte als mit einem Murmeltier; man mußte
ihn nach und nach enträtseln, gerade so wie ich. Er wollte keine Rolle spielen.
Die Leute bezahlten ihm ihren Lohn für seine Arbeit und verhalfen ihm damit
zu Kleidung und Ernährung, aber Meinungen tauschte er keine mit ihnen aus. Er
war so einfach und von Natur so demütig -wenn der demütig genannt werden kann,
der nie etwas erstrebt -, daß seine Demut in ihm keine hervortretende Eigenschaft
war; auch war er sich ihrer nicht bewußt. Geistreiche Menschen waren für ihn
Halbgötter. Wenn man ihm erzählte, daß ein solcher vorhabe zu kommen, so benahm
er sich, als ob etwas so Großartiges nichts mit ihm zu schaffen haben könne,
sondern alle Verantwortung selbst auf sich nehmen und ihn der Vergessenheit
überlassen müsse. Er vernahm nie die Stimme des Lobes. Vor allem zollte er dem
Schriftsteller und dem Prediger Ehrfurcht. Was sie taten, waren Wunder. Als
ich ihm erzählte, daß ich selbst ziemlich viel schreibe, dachte er lange Zeit,
ich meine das Schreiben mit der Hand; er schrieb selbst eine ganz gute Handschrift.
Manchmal fand Ich den Namen seiner französischen Pfarrei, mit dem Akzent auf
der richtigen Stelle, schön im Schnee geschrieben; dann wußte Ich, daß er vorübergekommen
war. Ich fragte Ihn einmal, ob er je den Wunsch gehabt habe, seine Gedanken
niederzuschreiben. Er sagte, er hätte für solche, die es nicht konnten, Briefe
gelesen und geschrieben, aber nie versucht, Gedanken zu schreiben -nein, das
könne er nicht; er wisse nicht, womit anfangen; es würde ihn umbringen. Dazu
müßte man auch zu gleicher Zeit auf das Buchstabieren achtgeben! - Henry David Thoreau, Walden oder Leben in den Wäldern. Zürich
1979 (zuerst 1854)
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