Mann Gottes  Reverend Short nahm seine Brille ab, legte sie zur Seite und strich sich mit der Hand über sein dünnes, knochiges Gesicht. Dann setzte er die Brille wieder auf.

«Es ist mir gegeben, Anweisungen von Gott zu empfangen, und ich frage nicht weiter danach», sagte er. «Als ich in dem Zimmer stand, wo Big Joes sterbliche Überreste in dem Sarg lagen, spürte ich einen überwältigenden Drang, in das vordere Schlafzimmer zu gehen. Ich wußte sofort, daß Gott mich auf eine Mission ausschickte. Ich gehorchte ohne Vorbehalt. Ich ging in das Schlafzimmer und schloß die Tür. Dann fühlte ich den Drang, zwischen Big Joes Sachen zu suchen.»

Coffin Ed drehte langsam den Kopf, um den Prediger anzusehen. Grave Digger wandte seinen Blick vom East River ab und starrte ihn auch an. Der Polizeistenograf hob schnell die Augen und senkte sie dann wieder.

«Als ich seine Sachen durchsuchte, fand ich das Messer. Es lag zwischen seiner Haarbürste, seinem Rasierapparat und anderem Zeug in der Schublade des Frisiertischs. Gott befahl mir, es an mich zu nehmen. Darum nahm ich es. Ich steckte es in meine Tasche. Dann befahl Gott mir, an das Fenster zu gehen und hinauszusehen. Ich ging zu dem Fenster und sah hinaus. Dann verursachte Gott, daß ich stürzte.»

«Wenn ich mich richtig erinnere, sagten Sie früher, daß Chink Charly Sie hinausgestoßen hat», unterbrach Brody.

«Das habe ich damals gedacht», antwortete Reverend Short mit seiner ruhigen Stimme. «Aber inzwischen habe ich erkannt, daß es Gott war, der mich stieß. Ich hatte den Drang zu fallen, doch ich stemmte mich zurück, und Gott mußte mir einen kleinen Stoß geben. Dann stellte Gott den Brotkorb auf den Gehsteig, um meinen Sturz aufzufangen.»

«Vorher haben Sie gesagt, es sei der Körper des Heilands gewesen», erinnerte Brody.

«Ja», gab Reverend Short zu. «Aber seitdem habe ich mich mit Gott besprochen, und jetzt weiß ich, daß es Brot war. Als ich aus dem Brotkorb stieg und mich unverletzt fand, wußte ich sofort, daß Gott mich in diese Lage gebracht hatte, um eine Mission zu erfüllen. Aber ich wußte nicht welche. So stand ich unten im Hauseingang außer Sicht und wartete darauf, daß Gott mich anwies, was ich tun sollte.»

«Sind Sie sicher, daß Sie nicht nur mal pinkeln mußten», warf Coffin Ed ein.

«Ja, das mußte ich auch», gab Reverend Short zu. «Ich habe eine schwache Blase.»

«Kein Wunder», sagte Grave Digger.

«Laßt ihn weitererzählen», befahl Brody.

«Während ich auf Gottes Anweisungen an mich wartete, sah ich Valentin Haines über die Straße kommen», fuhr Reverend Short fort. «Ich wußte sofort, daß Gott wollte, ich sollte etwas mit ihm tun. Ich war unsichtbar und beobachtete ihn aus dem Schatten. Dann sah ich, wie er zu dem Brotkorb ging und sich hineinlegte, als ob er schlafen wollte. Er lag genauso da wie in einem Sarg, und es war, als ob er auf das Begräbnis wartete. Da wußte ich, was Gott von mir wollte. Ich öffnete das Messer, hielt es in meinem Ärmel und trat zu ihm hinaus. Val sah mich sofort und sagte: ‹Ich dachte, Sie sind wieder zu der Trauerfeier hinaufgegangen, Reverend.› Ich sagte: ‹Nein, ich habe auf dich gewartet.› Er sagte: ‹Warum haben Sie auf mich gewartet?> Ich sagte: ‹Ich habe gewartet, um dich im Namen des Herrn zu töten.› Dann beugte ich mich zu ihm nieder und stach ihm ins Herz.»

Sergeant Brody wechselte mit den beiden farbigen Detektiven Blicke.

«Nun, das klärt alles», sagte er. Er wandte sich wieder an Reverend Short und bemerkte zynisch: «Ich nehme an. Sie werden sich vor Gericht als geistesgestört hinstellen.»

«Ich bin nicht geistesgestört», entgegnete Reverend Short ruhig, «ich bin heilig.»   - Chester Himes, Fenstersturz in Harlem. Reinbek bei Hamburg (rororo thriller 2348, zuerst 1959)

 

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