achtkampf  Der Arzt soll ein Mädchen untersuchen, das seit drei Tagen Fieber hat. Alle vermuten Diphtherie, obwohl das gefürchtete Wort unausgesprochen bleibt. In ihrer Alltäglichkeit beginnt die Untersuchung wie eine Szene auf einem Gemälde von Norman Rockwell. Das Mädchen verweigert die Zusammenarbeit, aber der Arzt fährt mit berufsmäßiger Weisheit fort, »ruhig und langsam«. Sie schlägt ihm die Brille herunter. Der Arzt ermahnt sie streng, ohne Erfolg. Dann erklärt er mit wachsender Ungeduld ihren Eltern die Gefahr und sagt, er wolle eine Rachenuntersuchung vornehmen, wenn sie »die Verantwortung« übernähmen. Aber die Verantwortung erweist sich bald als schwierig zu bestimmen.

Die Situation beginnt sich auf eine Weise zu verändern, die nicht ganz klar ist. Das Mädchen atmet schneller und schneller in seinem Verweigerungskampf. Der Arzt weist den Vater an, sie festzuhalten. Aber der Arzt fühlt, daß seine eigene berufsmäßige Selbstbeherrschung ins Wanken gerät. Der Leser ist nicht in der Lage, genau zu sagen, wann diese gewöhnliche Begegnung von Arzt und Patient die Grenzen der Medizin überschreitet. Der Versuch, den Mund des Kindes mit Gewalt zu öffnen, signalisiert jedoch eine dramatische Veränderung. Der Erzähler gebraucht die enthüllende Metapher: »Und nun begann der Kampf.«

Ein Kampf ist eine Kraftprobe, aber die Kräfte, die sich in diesem Kampf zwischen Arzt und Patient offenbaren, sind weniger kriegerisch als, wenn auch indirekt, sexuell. »Ich hatte das wilde kleine Biest schließlich schon längst ins Herz geschlossen«, gesteht der Arzt. Es ist ihre Wildheit, ihre ungehemmte Leidenschaft, die er als die Quelle seiner Erregung erkennt: »Während das Mädchen aus Angst vor mir über sich hinauswuchs und in einem großartigen Wutanfall gewaltige Kräfte mobilisiert.« Der Text berichtet jedoch auch seine anfänglichen Beobachtungen, wie er ihr »wunderschönes dichtes blondes Haar« bemerkt und daß sie »ungewöhnlich hübsch« ist. Obwohl die Medizin der Anlaß für diesen leidenschaftlichen Kampf ist, gerät der Kampf selbst zum Mittelpunkt. Die Medizin scheint lediglich den Hintergrund für eine sexuelle Begegnung zwischen Mann und Frau, zwischen Erwachsenem und Kind, zwischen Macht und Machtlosigkeit zu sein.

Bald schreit das Mädchen hysterisch. Ein hölzerner Zungenspatel splittert in ihrem Mund, und Blut fließt, aber die brutale Untersuchung geht weiter. »Ein Mann muß Fieber haben, um zu schreiben«, sagte Williams einmal und gab seine medizinische Version des inspirierten Barden bekannt. Hier ist es der Arzt, der besessen zu sein scheint. Man könnte auch Zeuge einer Szene bacchantischer Ekstase bei Euripides sein. Der Erzähler erklärt, »daß ich selbst völlig den Verstand verloren hatte. Ich hätte das Mädchen vor Zorn in Stücke reißen können, und ich genoß den Kampf. Es machte mir richtig Spaß, sie anzugreifen, und mein Gesicht glühte.« Der kurze Bericht kommt zu einem raschen Schluß. Die einer Vergewaltigung ähnelnde Szene des Widerstands und der Penetration endet im Triumph - »Ich preßte den schweren Silberlöffel mit Gewalt zwischen den Zähnen durch in ihren Hals, bis sie aufgab«, und das dionysische »Bedürfnis nach körperlicher Kraftentfaltung« ist mit einem hohen Preis befriedigt. Die Gewaltanwendung hat sich zweifellos gelohnt. Die anschließende Diphtheriediagnose des Arztes schützt die Öffentlichkeit und das Kind. Außerdem wußte Williams, daß ein Kinderarzt ungewöhnliche Talente braucht, die über das Mitgefühl hinausgehen. »Ich weiß, Sie werden die Kinder mögen«, sagt er zu dem Medizinstudenten Robert Coles, der einen Antrag auf eine Assistenzzeit als Kinderarzt gestellt hatte. »Sie werden Sie bei guter Laune halten. Aber können Sie sie auch einfangen, sie packen, sie festhalten und Nadeln in sie stechen und dabei nicht auf ihre Schreie hören?«  - William Carlos Williams, Gewaltanwendung (1961), nach: David B. Morris, Geschichte des Schmerzes. Frankfurt am Main 1996 (zuerst 1991)

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