Luftschiffer     Pfiffe gellen, Blendlichter gespenstern über den Hafen und brüllend und übereinanderkugelnd wie ein betrunkener Bienenschwarm stürmt die Horde an - unsere Freunde voraus, ein Sprung, die Taue durchkappt, und wie eine ungeheure Granate heulen wir hoch! Kugeln schlagen ein, die Wut und Enttäuschung tief unter uns schreit und wimmert herauf, aber wir haben eine Saite befestigt und streichen unsern königlichsten Bogenstrich, und fort fliegen wir, als machten wir Jagd hinter Sonne und Mond. - Am Morgen hingen wir über den südlichen Ausläufern des Ural.

Wohl hatte bei der tollen Flucht sich jeder von uns gesagt, daß es von jetzt an für ihn mit der menschlichen Gesellschaft zu Ende sei: allen Winden und Nöten preisgegeben, sturmgetragen wie der Vogel in der Luft, allein vertrauend auf unsern königlichen Bogenstrich und kriegerischen Paukenschlag würden wir irren durch die Welt, ruhlos von Stadt zu Stadt, rastlos von Land zu Land - ohne einen Gott, dem wir vertrauen und unsere Leiden als liebende Züchtigung, unser Nicht-Wissen als vorsorgliche Huld zuschreiben könnten, an dejn wir verzweifeln und dem wir fluchen könnten, ohne eine Wahrheit, ohne ein Ideal, ohne Gut oder Böse, Schön oder Häßlich, Sünde oder Tugend, ohne Liebe oder Haß, ohne Verantwortlichkeit, Gehorsam, Pflicht oder Mitleid, ohne Gesetz oder Willkürlichkeit, ohne Freund und Geliebte, Mensch, Staat, Familie und Gesellschaft, Ding oder Tier - nur uns und unser Musarion und den skeptischen Herrscherblick über die weite Welt; unsere sonnengewöhnten Augen, unsere Flüchtigkeit und wüstenbraune Haut, unser Nicht-Tier, unsere lohende Lust und grüner Ekel würde uns verraten in der alten und neuen Welt, jeder könnte uns fassen mit seiner schmutzigen Schacher- und stinkenden Alltagsfaust, uns aus seiner verbrannten Kehle anpoltern und mit seinem nervlosen Jargon anhauchen:

Da ist einer! Da ist einer vom Musarion! Ein Musarione! Haltet ihn! haltet ihn! -

Wohl wußten wir das, aber jetzt schwimmen die purpurn und goldnen Morgenwolken gerade unter uns und lassen die Erde verschwinden, und wir selbst sind nichts denn eine goldene schwebende Wolke - Freiheit! Freiheit! -

Was weinst du, Loo? Wenn du weinen willst, gehe ich allein. -

Gleich einem herbstverwehten Ampelopsisblatt liegen im Abendlicht die gewaltigen Seebecken des Lorenzstro-mes da, wie wir über der steinigen Nordküste des Huronsees stehen. Mit unsern Gläsern sehen wir hoch am südlichen Horizont die Häusermeere Buffalos liegen und glauben als winzigen Silberfaden den Niagarra stürzen zu sehen - da meldet Howald: um elfeinhalb treten wir zwisehen Sonne und Mond -, und wir bleiben über unserer unwirtlichen Küste hängen.

Die Nacht ist wolkenlos und still, nur die Seen unter uns branden unhörbar an den Gneisblöcken und Basalten. Hoch und mit seinen Tychostrahlen wie eine geschälte silberne Nagarunga anmutend hängt der Mond über uns, nur der Orion und der Bär sind bei seinem hellen Licht zu sehen. - Unsere Uhren zeigen halbzwölf, da wird der Ostrand undeutlich und verschwimmend, ein flacher dunkler Einschnitt frißt sich langsam ein, ein rostbrauner Kreisschatten saugt die silberne Apfelsine in sich - langsam, geduldig, er hat Zeit -. Und wie eine Stunde verflossen ist, ragt nur der westliche Rand wie eine schmale gleißende Kalotte über den kleineren dunkelrostroten Körper. Hinter ihm flammen leuchtend die Sternbilder in der dunklen Nacht auf, weißgrau und sternenleer ist der Himmel vor ihm; das Auge beginnt zu flimmern, lange rückwärtsgerichtete Strahlen schießen von der halbmondförmigen Silberhaube aus - und jetzt strudelt und rennt das dunkelrote weißköpfige Gebilde wie ein riesiger Algenschwärmer mit scheitelständigem Wimperkranz durch die Welt. - -

Aber im Süden hinter den Seen sind Wolken aufgequollen, ein Nachtwind treibt sie unter uns her und wie zerwühlte Kissen, in denen ein Riese schwer geträumt, liegen sie unter uns; und der Algenschwärmer ist enzysüert, eine braune, tote Kugel taumelt er in die Nacht. - Doch um zwei Uhr morgens ist er vom Rost befreit und lacht wieder mit seiner pausbackigen Bonvivantvisage in die Welt, unschuldig dumm und süß, als wäre nichts geschehn, - und die Wolken unter uns sind glatt und schwellend wie weiße Betten, die auf ein Liebespaar warten. ~   - Gustav Sack, Ein verbummelter Student. Stuttgart 1986 (zuerst 1918)

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