ücke   KATASTROPHE, übersetzt von Kampe, 1813, Glückswechsel, Glückswende.

Es wendet sich 1813 das Glück des dicken Bonaparte. Er glaubt, aus Rußland zurück, nach einem Bad in warmem Wasser, nach Meldungen, die ihm die Bewegungen der Gegner vorhersagen, daß er »sein Glück erzwingen kann«; denn dies ist von der Französischen Revolution übriggeblieben: Glückserzwingung, das Machbare.

Darin ist der kleine Kaiser ein Spezialist. Wer ihn beobachtet hat, diese zwingende Empfindung, diesen Jagdverstand, vertraute ihm, daß er die Lücke in den Tatsachenhaufen erspäht. Im Gegensatz zu Hunger, Durst, Beutegier oder Vorteil ist sein Sinn auf nichts Wirkliches gerichtet, sondern auf die Lücke, in der der glückliche Ausgang wohnt, die Spur, die alle anderen nicht sehen, weil ja Glück selten ist. Die anderen sind auf Grund dieser Seltenheit ungläubig geworden.

Napoleon

Abb. Glückswechsel, Glückswende. Dieser Eroberer besitzt eine Reserve, d. h. Ungläubigkeit gegenüber dem verbreiteten Unglauben ans Glück.
Das haben ihm die Leute in der royalistischen Koalition abgelauscht. Sie haben gelernt, ihm die Auswege zu sperren. Ihn durch Hoffnungslosigkeit zu ersticken. Doch bei Dresden hat der Kaiser gezaubert: ein Glückswechsel. Der Kaiser empfängt in Dresden. Später gelingt ihm nichts mehr. Die Glückswende hat Gründe, die 6 Monate oder 600 Jahre zurückliegen. - (klu)

Lücke (2)  An einer Stelle war die bejahrte Mauer ein wenig abgebröckelt, und da gab es eine Art Bresche, die ich absichtlich so gelassen hatte. Durch sie brach Don Juan Kopf über Hals herein in mein Anwesen. Vorausgeschnellt war ihm freilich eine Art von Speer oder Lanze. Im Bogen kam das Geschoß durch die Lüfte und bohrte sich zu meinen Füßen in das Erdreich. Die Katze, die daneben im Gras lag, blinzelte kurz und schlief dann gleich weiter, und ein Spatz — welcher Vogel wäre dazu sonst imstande gewesen? — landete auch schon auf der noch wippenden Lanze und setzte das Wippen fort.. - Peter Handke, Don Juan (erzählt von ihm selbst) Frankfurt am Main 2006 (st 3739, zuerst 2004)

Lücke (3)   Man hüte sich einzutreten, wo eine große Lücke auszufüllen ist: thut man es jedoch, so sei man sicher, den Vorgänger zu übertreffen: ihm nur gleich zu kommen, erfordert schon doppelten Werth. Wie es fein ist, dafür zu sorgen, daß der Nachfolger uns zurückgesehnt mache; so ist es auch schlau, zu verhüten, daß der Vorgänger uns verdunkle. Eine große Lücke auszufüllen, ist schwer: denn stets erscheint das Vergangene als das Bessere, und sogar dem Vorgänger gleich zu seyn, ist nicht hinreichend, weil er schon den Erstbesitz voraus hat. Daher muß man noch Vorzüge hinzuzufügen haben, um den Andern aus seinem Besitz der höhern Meinung herauszuwerfen.  - (ora)

Lücke (4)  Der Kater Grison ist tot. Der letzte Überlebende aus der Schar von Katzen, die ich noch zu Beginn des Krieges hatte. Aufgenommen im Jahre 1934, als er ein, vielleicht anderthalb Jahre alt war. Er war also etwa ein Dutzend Jahre alt. Höchstwahrscheinlich Angina pectoris.  Noch eine Lücke für den einsamen Mann, der ich bin, noch ein Lebensgefährte, der mir fehlt. Wenigstens habe ich ihn sehr verwöhnt, liebkost und umsorgt. In ihm liebte ich all die letzten, zu denen er gehörte und die ich verloren habe. Ihm und der Katze Minette, die ich im vergangenen Jahr aufgenommen habe, habe ich oft meine Fleischration gegeben, seit alles so knapp geworden ist.

Die Meerkatze hat ihn den ganzen Tag über in allen Zimmern gesucht.  Vorhin habe ich die Meerkatze in das Zimmer gelassen, wo der tote Grison liegt. Erst hat sie überall gesucht und sich umgeguckt. Dann hat sie den Kopf gehoben und zu den Möbeln hochgeblickt. Sie hat die Beine über den Tisch herabhängen sehen. Sie ist hochgeklettert. Hat zunächst unbeweglich hingeguckt. Ist dann um Grison herumgestrichen und hat mich dabei immer angesehen. Ich dachte, sie würde die Watteschicht hochheben, die den Kopf verbarg. Doch nein. Sie hat sich dann vor ihn hingestellt und angefangen, ihn zu flöhen, wie sie es sonst ständig tat. Die Starre des Kadavers hat sie wohl stutzig gemacht. Sie hat sofort aufgehört, ist vom Tisch heruntergeklettert und in ihr Zimmer zurückgegangen. - (leau)

Lücke (5)  Ich erwachte  davon, daß Jel Idézö den Kasten neben meinem Bett geräuschvoll zur Seite schob und ein seltsames Instrument, das wie eine Waschrumpel aussah, über deren Rücken eine Reihe von Darmsaiten gespannt war, hervorholte. Seine Frau saß wie vorher auf dem kleinen Hocker vor der Türe und sah ihm zu. - Jel Idézö sah zu mir her und bemerkte, daß ich aufgewacht war. »Ah, Hans ist auch wieder wach!« sagte er. - »Für jeden Bieresch, heißt es«, setzte er ein offenbar schon vorher begonnenes Gespräch fort, tat aber trotzdem so, als richte er seine Worte an mich, »für jeden Bieresch also steht ein breiter Sessel bereit. - Mich hat das Leben in die schmälste Lücke gezwängt, die zu finden war. Wahrscheinlich bin ich wohl auch kein richtiger Bieresch, sondern verkaufe ihnen bloß Hunde für ihre Seelen. - Auch ›Halbwegs‹ war einer von ihnen!« sagte er und tätschelte das tote Tier. »Den Lebenden verkauft man die Hunde, den Toten schreibt man Gedichte.« - Klaus Hoffer, Bei den Bieresch. Frankfurt am Main  1986 (zuerst 1979/1983)

Lücke (6)  Das Wesentliche auf den Wanderungen des Zeichners ist das Bemerken jener Lücken, die da hin und wieder ganz plötzlich von denen da auf der anderen Seite für den Wanderer soweit geöffnet werden, dass er für einen Moment das Universum erblickt. Es sind jene Lücken, durch die allein wir das Grössere zu sehen vermögen. Nicht, dass wir das Gesehene auch erkennen könnten — aber eine Ahnung überkommt uns dabei schon. Nun - so ein Loch kann sein: in der Pupille des Gegenüber aber auch im Schatten über der zuckenden Halsschlagader - es kann sein zwischen den Blättern einer Arnica mit der Blickverlängerung auf das Wolkenband am Simplon hin - es kann sein in der Ordnung eines Häuflein von Knöpfen oder in einem dieser Knöpfe selbst, und auch sodann in der sich überschlagenden Welle einer Brandung mitten in einem Möwenschrei. Wenn man uns nicht gnädig das Vergessen geschenkt hätte - die Welt wäre ein Sieb, ein Kugelsieb - so eins, in dem man Salat schwenkt. Und wir drin! und draussen all die fleischgewordenen Träume und die offenbarten Wunder! Und all das nicht Traum und Wunder, sondern die Verständlichste aller Klarheit.   - (jan)

Lücke (7)  Man hatte Wind davon bekommen, daß die Vietnamesen einen Angriff auf den Flughafen planten. Weil, die sind auch nicht blöd. Die sitzen doch nicht da und warten seelenruhig ab, bis die anderen ihr gigantisches Rollfeld fertig haben, auf dem sie dann in ihre Kampfbomber steigen, um alles abzuknallen, was ihnen vor die Flinte kommt. Bevor die Vietnamesen auch nur einen Finger rühren konnten, wurden die Funktionäre der Roten Khmer nach Thailand ausgeflogen. Im Schlepptau die chinesischen Ingenieure. Aus irgendeinem Grund, vielleicht weil sie sich irgendwas für den Flug oder die Zeit danach ausrechneten, konnten auch ein paar Frauen mit, darunter Tannys Mutter. Während die Bosse abzwitscherten, setzten die Militärs die Tunnelanlage unter Wasser. Dabei gingen schon mal eine ganze Menge der Arbeiter drauf, die da unten noch rummachten und es nicht rechtzeitig schafften, durch eins der Löcher nach oben zu kriechen. Obwohl es da oben auch nicht besser aussah. Oben wurden die restlichen Arbeiter nämlich wie Vieh zusammengetrieben und an Bambusstöcke gebunden. Wenn du so einen Bambusstock auf dem Rücken zwischen dir und einem Dutzend anderer Gestalten hast, weißt du bald nicht mehr, wo vorn und wo hinten ist. Vor allem kannst du dich nicht richtig bewegen. In Hundertergruppen ging es dann kilometerweit vom Rollfeld zu einer Bahnstrecke, wo schon eine abgetakelte Lok und ein Viehwaggon auf die Militärs warteten. Doch die hatten vorher noch was zu erledigen. Natürlich hatten sich schon auf dem Weg viele die Knochen gebrochen. Wer nicht mehr weiter konnte, den schleppten die anderen, die mit ihm an den Bambus gekettet waren, noch ein Stück mit. Wenn es aber zwei oder drei wurden, die zusammenbrachen, dann schafften das die ändern nicht mehr. Sie fielen auf die Straße und wurden abgeknallt.

Wer bis zu den Gleisen kam, mußte sich an den Rand einer Grube stellen, die man in der Zwischenzeit mit ein paar Baggern ausgehoben hatte. Auf der anderen Seite postierten sich die Wachmänner mit ihren Knarren. Dann kamen die Bulldozer und trieben die Arbeiter in die Gruben. Zu hunderten stürzten sie nach unten und stapelten sich in dem riesigen Loch. Schließlich wälzten sich die Bulldozer über die ohnehin schon halbtoten Leiber. Man hatte wenig Zeit und wollte auf Nummer sicher gehen. Der Zug wartete. Zuschütten war unnötig, obwohl immer noch Schreie aus der Grube kamen. Die Schreie hielten auch noch eine Weile an. Nicht nur während der Viehwaggon mit den Militärs am Horizont verschwand, sondern auch noch die ganze Nacht und den nächsten Vormittag. Dann war es ruhig. Alle waren verreckt. Fast alle. Man glaubt es nicht, aber zwölf haben es tatsächlich geschafft. Die lagen wahrscheinlich irgendwo günstig in einer Lücke unter einem Haufen anderer. Zwölf Männer. Zwölf von 3000. Mit letzter Kraft wühlten die sich zwischen den Leichen heraus und taumelten in Richtung ihrer zerstörten Dörfer.   - (rev)

Lücke (8)   Eigentlich ist die unheimliche Frage gar nicht, wieso es auf dem Weg von Punkt H zu Punkt C überhaupt einen Ort geben kann, der eine Lücke, der Inbegriff der Abwesenheit ist. Diese Abwesenheit erscheint mir durchaus vernünftig und sinnvoll und von einer Folgerichtigkeit, die ich keinesfalls herauszufordern wagte. Was mich erstaunt, ist, daß es außerhalb dieses Ausfalls etwas gibt, da jede Ausnahme vom Nichts, weil es eben eine Ausnahme ist, nicht frei sein kann von Gesetzesübertretung, die wiederum an Fehler und Frevel teilhat. Kurz gesagt, was mich angesichts dieser Lücke erstaunt, ist die Tatsache, daß es mich gibt; und ich muß nun denken, daß mein Dasein etwas zugleich Ruchloses und Schreckeneinflößendes ist, da es gegen das Dasein der vollkommenen Lücke einen Einwand vorbringen kann. Das Gefühl, das dieses weiterlebende Hindernis in mir erregt, ist somit ein Staunen mir selbst gegenüber. Wenn ich es wagen würde, in die Lücke einzudringen - bisweilen habe ich mit dem Gedanken gespielt, habe armselige Pläne dazu entworfen -, konnte das dem Anschein nach das Ende der Lücke bedeuten; das heißt: wenn ich in den Schlund hineingehen würde, könnte ich doch nicht in ihn vordringen, denn in demselben Maß, wie ich vordringen würde, zöge sich die Lücke zurück, und ich bliebe immer an ihrem Rand, wäre nicht imstande, in das einzudringen, was nicht ist. Aber nehmen wir an, ich würde nicht etwa empfangen, sondern gerade im richtigen Maße ignoriert, daß ich eindringen dürfte; in diesem Fall wäre ich, so sage ich mir, eine Ausnahme, eine Unterbrechung, ein Fehler, der eingeschlossen ist in die Regel, in die Ganzheit, in die Genauigkeit. Da die Lücke weder Anfang noch Mitte noch Ende hat, wäre ich Anfang, Mitte und Ende; die Lücke finge in mir an, würde einen Kreis um mich beschreiben und in mir enden. Da die Lücke alle logischen Merkmale des Unendlichen hat, ließe sie keine Änderungen an sich zu und dürfte sich auch nicht vor mir zurückziehen, würde aber keinerlei Notiz von mir nehmen. Darüber besteht kein Zweifel, daß ich von der Lücke weder akzeptiert noch abgelehnt würde; deswegen würde die Lücke, indem sie mich ignoriert - denn etwas anderes könnte sie nicht tun -, mir die Merkmale einer anderen, auf ihre Art homogenen Lücke zuschreiben. Somit wäre ich eine Lücke in der Lücke, könnte aber von der anderen Lücke nicht aufgesogen werden, obschon die Lücke logischerweise keine qualitativen Unterschiede kennt. Die Lük-ke und ich würden ein Widerspruch und zugleich dasselbe, beide Lücke, beide unwissend und unbekannt, beide Abwesenheit, aber zwei Abwesenheiten, zugleich verwandt und unähnlich, und wir hätten beide teil am Nichtsein, aber zu diesem Nichtsein würden wir über einander fremde Wege gelangen. Wenn ich mich jedoch jeglichen Versuches enthalte, die ununterbrochene Lückenhaftigkeit zu überwinden, wenn ich nicht versuche, mich ihr zu nähern, begebe ich mich in eine vorteilhafte und äußerst unheimliche Lage. Ich weiß mit Sicherheit, daß das Nichts ignorieren kann, was drinnen ist ~ obschon es selbst kein »Drinnen« hat -, aber ich weiß nicht ebenso sicher, ob es nicht gegen das, was draußen ist, stößt, Wenn ich außerhalb des Lückenortes weile, wird mein fehlerhaftes Wesen riesengroß, aufdringlich und zugleich auch eine Herausforderung, ich bin der Anfang, die Mitte und das Ende. Wenn das ganze Universum, das nach meinem Dafürhalten existiert, eine reine Halluzination wäre, die auf keinen Fall den folgerichtigen Zusammenhang des Schlundes Lügen strafen könnte, dann bin ich mit meinen Halluzinationen doch immer noch jene monströse, unerforschliche Ausnahme von der Lücke, von der die Lücke Kenntnis nehmen muß, die sie zwar verleugnen, aber nicht ignorieren kann, obschon die Lücke nichts kennt als sich selbst. Aber was ich meine, ist folgendes: Das Selbst, welches das Nichts kennt, erfährt eine Änderung durch die Tatsache, daß es mich mit meinen Halluzinationen, mich den Fehler, die lückenhafte Lückenhaftigkeit gibt. Die einzige Art und Weise, dem Nichts gegenüberzutreten, ist also, das Nichts anzublicken und zu ihm zu sagen - wobei mich das folgende Pronomen amüsiert - »Du bist das Nichts, aber ich bin, obwohl es unlogisch ist, nicht das Nichts, auf keine Weise«. Also müßte das Nichts im äußersten Fall durch mich hindurchgehen und nicht umgekehrt; aber das Nichts kann durch kein Etwas hindurchgehen, ohne selbst zu nichts zu werden, und das Zunichtswerden des Nichts erscheint - obschon sprachlich tadellos - als eine unheilbare Lösung und zugleich eine Niederlage des Nichts, die sprachlich unmöglich ist. Dies ist also unser Zustand: wir sind fremd und blutsverwandt, im Nichtsein miteinander verbunden, Wurzeln gegenseitiger Zerstörung. Wir können einander nur messen, obschon wir wegen unserer verschiedenen Bewegungen unmeßbar sind, und wir können einer des anderen Hinterhalt und Schicksal sein, und in diesem schweigsamen Zwiegespräch dauern wir fort als widersprüchliche Lücken, als Gründe und Irrgründe.   - Giorgio Manganelli, Kometinnen und andere Abschweifungen. Berlin 1997

Lücke (9)

 LÜCKEN

Armut ist eine Lücke
Freiheit ist eine Lücke
Im Augenwinkel einer Marmorstatue
sind Siege eine Lücke
Schwarze Vögel, die vom Horizont tropfen
sind die Offenbarung kommender Altersflecken
Desillusion ist eine Lücke
auf dem Grund des Bechers eines Freundes
Verrat ist eine Lücke
auf dem Foto Liebender
Abscheu ist eine Lücke
in einem lang erwarteten Brief
Die Zeit ist eine Lücke
ein Schwarm unheilvoller Fliegen
an der Decke eines Krankenhauses
Geschichte ist eine Lücke
Sie ist ein nichtendenwollender Stammbaum
mit einem Nachweis nur für die Abgelebten.

- Bai Dao, nach (frach)

Zwischenräume

 

Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Synonyme