oswerden
Es war einmal ein Mann, der fürchtete sich vor seinem Schatten
und haßte seine Fußspuren. Und um beiden zu entgehen, ergriff er die Flucht.
Aber je öfter er den Fuß hob, um so häufiger ließ er Spuren
zurück. Und so schnell er auch lief, löste sich der Schatten nicht von
seinem Körper. Da wähnte er, er säume noch zu sehr; begann schneller zu
laufen, ohne Rast, bis seine Kraft erschöpft war und er starb. Er hatte
nicht gewußt, daß er nur an einem schattigen Ort zu weilen brauchte, um
seinen Schatten los zu sein. Daß er sich nur ruhig zu verhalten brauchte,
um keine Fußspuren zu hinterlassen. - Alfred Döblin, Die drei
Sprünge des Wang-lun. München 1970 (zuerst 1915)
Loswerden (2) Der Angeklagte, jetzt 28 oder 29 Jahre alt, ist seit über zehn Jahren in Deutschland. Seit damals gelingt es der Ausländerbehörde nicht, ihn wieder loszuwerden. Woran das liegt, soll hier nicht näher ausgeführt werden. Aber es ist doch so, dass derjenige, der zehn Jahre so unfähig war, einen Zustand zu beseitigen, den Zustand im Ergebnis duldet. Jedenfalls muss man den Zustand dann als unvermeidlich hinnehmen.
Zu diesem Unvermögen der Behörde tritt noch etwas aus der Sicht des
Angeklagten. Der Angeklagte ist Kurde und doppelt staatenlos. Zum einem
ist er staatenlos, weil es kein Kurdistan gibt und zum anderen, weil ihn
auch der Libanon, der sich ja neben dem Irak, Syrien und der Türkei einen
Teil des von Kurden besiedelten Gebietes zugeeignet hat und auf dessen
Territorium der Angeklagte geboren wurde, nicht als Staatsangehörigen betrachtet.
So weiß der Angeklagte gar nicht, wohin er gehen soll. Kürzlich war der
Angeklagte in den Niederlanden, die haben ihn ganz schnell wieder über
die Grenze nach Deutschland geschickt. Es ist nicht anzunehmen, dass Österreich,
Polen, oder gar die Schweiz über das Erscheinen des Angeklagten entzückt
wären und ihm Aufenthaltsrecht gewähren würden. - Rüdiger Warnstädt,
Recht so. 80 originale Strafurteile aus dem Kriminalgericht Moabit. Verlag
das Neue Berlin, Berlin 2003
Loswerden (3) Woher soll ich die Farben nehmen,
um den allgemeinen Aufschrei öffentlicher Freude inmitten
des furchtbarsten Schauspiels zu malen, die Explosion lärmender Fröhlichkeit,
die sich ausbreitet und bis zu den Stufen des Schafotts widerhallt? Sein Name
ist in aller Munde, und Verwünschungen begleiten
ihn: Er ist nicht mehr, der unbestechliche, der tugendhafte Robespierre;
die Maske ist gefallen ... Auf dem Schafott riß ihm
der Henker, gleichsam angesteckt vom allgemeinen Haß,
den Verband von seiner Wunde; er schrie wie ein Tiger: Der Unterkiefer fiel
herunter, wobei ein Blutschwall herausschoß, und aus diesem menschlichen Antlitz
wurde eine Monstervisage, die schrecklichste, die man sich ausmalen kann. Obwohl
er tödlich verwundet war, verlangte die öffentliche Rache für ihn noch ein zweites
Sterben, und die Leute eilten in Scharen herbei, um nicht den Augenblick zu
verpassen, in dem sich dieser Kopf unter das Messer beugen würde, unter das
er so viele andere gestoßen hatte. Man klatschte mehr als fünfzehn Minuten Beifall.
- Mercier, Über die Hinrichtung Robespierres, 28. Juli 1794, nach (
enc
)
Loswerden (4) Christines Tod war kein Verlust für
Philippe, ausgenommen die Begräbniskosten. Bald verschwand sein Bauch,
und zu seiner eigenen Überraschung stellte er auf einmal fest, daß er wohlhabend
war und nicht jeden Pfennig umdrehen mußte. Seine Freunde beglückwünschten ihn
- sehr höflich, ohne ins Detail zu gehen. Sie konnten ja kaum sagen »Gott sei
Dank - das Miststück bist du los«, aber sie sagten es so deutlich wie es ging.
Nach kaum sechs Monaten lernte er ein recht nettes Mädchen kennen, das gerne
kochte, gesund und kräftig war und auch gern mit ihm ins Bett ging. Sogar die
Haare auf Philippes Kopf begannen wieder zu wachsen.
- Patricia Highsmith, Kleine Geschichten für Weiberfeinde. Eine weibliche
Typenlehre in siebzehn Beispielen. Mit siebzehn Zeichnungen von Roland Topor.
Zürich 1979 (detebe 20349)
Loswerden (5) Steil und vollständig kahl
ragte die Insel aus dem Wasser heraus. Auf ihr lag der
Kapitän einer kleinen englischen Brigg begraben. Für mich war die Insel immer
ein feierlicher und ergreifender Platz. Sie lag da so einsam. Einsam war auch
der Tote hier bestattet worden. Er soll durch Gift umgebracht worden sein. Niemals
wurde eine Untersuchung eingeleitet. Wie man erzählte, war sein Steuermann froh,
ihn aus dem Wege zu haben. Er schaffte ihn in aller Eile auf die Insel und begrub
ihn dort, ohne auch nur ein Gebet zu sprechen. -
(dana)
Loswerden (6) Heinrich VIII., König von England
(1491-1547), ein Blaubarttypus, der sich - er war nicht weniger als sechsmal
verheiratet - rücksichtslos seiner Frauen entledigte, indem er einige sogar
hinrichten ließ. Von seiner ersten, häßlich gewordenen
Frau Katharina v. Aragonien trennte er sich, um die schöne Anna Boleyn zu heiraten,
was auch zur Errichtung der anglikanischen Kirche führte, da der Papst nicht
die Einwilligung zur Ehe geben wollte. Nichtsdestoweniger wurde er auch bald
der Boleyn überdrüssig, ließ sie ganz ungerechtfertigt des Ehebruches, gar des
Inzestes mit ihrem Bruder beschuldigen und 1536 hinrichten.
Am Tage nach der Hinrichtung vermählte er sich mit
Johanna Seymour, die aber bald im Kindbett starb. Er heiratete nun Anna von
Kleve, die »Königin eines Tages«, die er aber augenblicklich verließ, weil er
schon eine Neigung zu Katharina Howard gefaßt hatte, die er nach der Scheidung
von Anna sofort heiratete. Es stellte sich aber nun heraus, daß Katharina vor
der Heirat als nach derselben zahlreiche Liebhaber gehabt hatte, weshalb er
auch Katharina 1542 hinrichten ließ. Er schritt nun
zu seiner sechsten Ehe mit Katharina Parr, die kurz vor dem Tod Heinrichs beinahe
ebenfalls das Opfer dieses Blaubarts geworden wäre. - (
erot
)
Loswerden (7) Ich habe gerade schwierige Zeiten hinter mir. Letzten Monat habe ich meine Frau verloren.
Bei einem Pokerspiel. - Kinky Friedman, Katze, Kind
und Katastrophen. Berlin 2007 (zuerst 2002)
Loswerden (8) Hinter dem Bal Bullier lag ein anderes
Atelier, das ich anfing, zu besuchen - das Atelier von Mark Swift. Wenn er auch
kein Genie war, so war er doch jedenfalls ein Sonderling, dieser satirische
Ire. Er hatte eine Jüdin zum Modell, mit der er seit
Jahren zusammenlebte. Jetzt hatte er sie satt und suchte nadi einem Vorwand,
sie loszuwerden. Aber da er die ursprünglich von ihr mitgebrachte Aussteuer
verzehrt hatte, wußte er nicht, wie er sich von ihr freimachen sollte, ohne
Ersatz zu leisten. Das einfachste war, sie so schlecht zu behandeln, daß sie
lieber hungern als seine Grausamkeiten ertragen würde. Sie war ein recht netter
Mensch, seine Geliebte. Das Schlimmste, was man gegen sie sagen konnte, war,
daß sie ihre Figur und die Möglichkeit, ihn weiter auszuhalten, eingebüßt hatte.
Sie war selbst Malerin, und unter denen, die Bescheid zu wissen vorgaben, hieß
es, daß sie weit mehr Talent besaß als er. Aber ganz gleich, wie schwer er ihr
das Leben machte, sie war rechtschaffen. Sie duldete nie, daß jemand sagte,
er sei kein großer Maler. Weil er wirklich genial veranlagt war, so erklärte
sie, sei er als Mensch so unerträglich. - Henry Miller, Wendekreis
des Krebses. Reinbek bei Hamburg 1966 (zuerst 1934)
Loswerden (9) Mein Mann hatte immer die Absicht,
ins Ausland zu wandern. Der Wunsch ging in Erfüllung, wo er mich mitnahm.
Auf dem Schiff wunderte ich mich über alles, was ich sah, wollte auch viel wissen.
Durch dieses viele Fragen wurde Link ungemütlich und warf mich über Bord. Dieses
hatte jemand gesehen, und wurde gerettet. Als ich wieder bei Link war, paßte
ihm das nicht; ich wurde ihm lästig. Da packte es mich wieder, daß er mich erst
mitlockte, nun wollte er mich los sein. Da gab ich ihm einen Stoß. Link fiel
so unglücklich ins Wasser und kam nicht wieder zum Vorschein. Aber ich sehe
ihn immer hinter mir kommen. - (
je
)
Loswerden (10)
Loswerden (11) »Hören Sie mir eine Minute
zu?« fragte ich die Frau. »Bitte, ich höre eine Stunde zu, bitte!« keuchte
sie. Ich sagte: »Was Sie vorhaben, in Ordnung, das ist Ihre Sache. Aber mit
mir können Sie unmöglich reisen. Warum? Weil ich, sobald ich trinke, keinen
Widerspruch ertrage. Und ich werde, spätestens am Hauptbahnhof, für Vorratshaltung
am Körper sorgen, sonst betrete ich keinen Zug nach Frankfurt.« Ich fuhr ruhig
und vollkommen neutral fort: »Und wenn ich saufe unterwegs und Sie wären so
normal, mir zu widersprechen, kann es ohne weiteres sein, daß ich Sie ohne Kommentar
durch die geschlossene D-Zugscheibe donnere, das ist bei mir jederzeit drin.
Und deshalb verlassen Sie Ihren Mann oder tun Sie es nicht, verreisen Sie, mit
wem und wohin Sie wollen, nur nicht mit mir. Nach allem, was Sie hier an Sprache
und Temperament aufführen, worüber ich mir auch nicht den Schatten eines Urteils
erlaube, garantiere ich, sobald ich saufe, keine Stunde für Ihr Überleben.«
Die Frau und der Mann hingen wie Verdurstende an meinen Lippen. Als ich meine
wirklich ernste Erklärung beendet hatte, nickten sich die beiden in einer Einträchtigkeit,
die mich betreten machte, zu und die Frau sagte: »So, Karl, jetzt ist dir wohl
klar, daß ich mit ihm und mit keinem sonst fahren werde.« - (
kap
)
Loswerden (12) Dörnberg, Präsident in Cassel, wird K. Fridricks I. Favorit in Stockholm. Hier verliebt in Frl. Liwen (später Fr. Horleman) (malevoli ex eo eam gravidam ferunt), freit um Frl. Liwen.
Reist nach Cassel. Bewegt einen Lakai, sich zu seiner Frau zu legen, als sie schlief. Kommt herein mit Zeugen. Obligiert den Diener, sich zu entfernen. Trennt sich deshalb von seiner Frau.
Reist dann nach Stockholm, um sich mit Frl. Liwen zu verheiraten. Stirbt auf dem Weg in Nordkiöping.
[malevoli Böswillige sagen, sie sei von ihm schwanger.] -
(
nem
)
Loswerden (13) Dschuang Dsï hieß sie Wein herbeibringen und fing an zu trinken.
Die Frau gab ihm tausend gute Worte, denn sie wollte gerne bei ihm bleiben; aber Dschuang Dsï betrank sich und sang ein Liedchen:
„Nun bin ich aller Bürden ledig;
Du möchtest
noch, ich laß es sein!
Würd ich mit dir zusammenbleiben,
Du schlügst
mir noch den Schädel ein."
Dann brach er in lautes Gelächter aus und sprach: „Ich will dir deinen neuen Gatten zeigen."
Damit streckte er die Hand aus, und die Frau sah plötzlich den Prinzen und den Alten zur Tür hereinkommen. Sie erschrak heftig und blickte sich um, da war Dschuang Dsï verschwunden. Sie wandte abermals den Kopf, da waren der Prinz und sein Begleiter weg. Da merkte sie, daß Dschuang Dsï seine Zauberkünste habe spielen lassen, um sie auf der Tat zu ertappen. Vor Scham und Verzweiflung erhängte sie sich.
Da trommelte Dschuang Dsï auf einer Schüssel und sang:
„Sie hat mich wollen betrügen.
Ich war ihr zu
gescheit.
Was nützt mir dann mein Rößlein.
Wenn drauf ein andrer reit!
Läg
ich heut noch im Sarge,
Sie hätt' einen andern gefreit.
Und ich wär mausetot
—
Ach Jammers und ach Not!"
Damit verließ er sein Haus und wanderte in Muße. Er erlangte die Unsterblichkeit
und verschwand. - (
chm
)
Loswerden (14)
- N.N.., nach (
boc
)
Loswerden (15)
Loswerden (16)
Loswerden (17) Ich fragte Freundin leise: „Wollen wir eine List anwenden?" „Nein," antwortete sie, „Gewalt." Und wir stürzten uns alsbald auf Olympia. „Hure," sprachen wir zu ihr, „wir haben dich satt und wollen dich lebend in das Innere dieses Vulkans stürzen." „O, meine Freundinnen, was habe ich denn getan?" „Nichts, du langweilst uns, und das genügt," und bei diesen Worten knebelten wir sie mit einem Taschentuch und erstickten damit sofort ihr Schreien und Wehklagen. Nun band ihr die Clairwil die Hände mit Seidenschnüren fest, während ich ihre Füße fesselte, und als sie wehrlos war, ergötzten wir uns an ihrem Anblick. Wir entkleideten sie und mißhandelten sie an allen Körperteilen.
Endlich nach zwei Stunden der furchtbarsten Quälereien hoben wir sie auf
und warfen sie in die Mitte des Vulkans hinein. Noch sechs Minuten nachher hörten
wir den Körper hinunterkollern, langsam nahm der Lärm ab, bis schließlich alles
still wurde. „Es ist geschehen," sagte Clairwil, „o, Geliebte, wir wollen
jetzt beide entladen." Ich war nicht mehr
fähig, zu antworten, und so preßten wir uns bloß eine in die Arme der anderen
und kitzelten uns. „Du siehst," sprach die
Clairwil, die zuerst wieder zu sich kam, „du kannst jetzt erkennen, Juliette,
ob die Natur sich um die sogenannten Verbrechen der Menschen kümmert. Sie konnte
uns mit glühender Lava übergießen, hat sie es getan? Ah, sie beruhigt, was den
Zorn der Natur auf uns ziehen kann." - (just)
Loswerden (18) MALANDRINI (SCHURKEN). Dieser Name wurde zur Zeit der Kreuzzüge den ägyptischen oder arabischen Räubern gegeben, die Syrien und Ägypten heimsuchten, weil die meisten von ihnen die Lepra hatten, welche einst Malandra hieß. Der Name wurde dann den Banden gegeben, die stehlend und raubend umherzogen. Die Malandrini suchten vor allem Frankreich heim, und Du Guesclin säuberte das Königreich von ihnen, indem er sie mit nach Spanien nahm, unter dem Vorwand, sie sollten gegen die Mohren kämpfen. Er tat dann sein möglichstes, daß sie alle unter den Krummsäbeln der Ungläubigen fielen.
So befreit sich der Fuchs von den Flöhen, indem er ein Grasbüschel ins Maul nimmt, in einen Fluß steigt und allmählich tiefer ins Wasser geht, bis er zuletzt auch den Kopf untertaucht und das Grasbüschel losschwimmen läßt, auf das sich die Flöhe nach und nach geflüchtet haben.
Eine höchst grausame Variante des Systems des Konnetabels wurde von der Stadt Konstantinopel angewendet, als sie sich im Jahre 1907 oder 1908 von ihren vielen Hunden befreite: Sie wurden auf eine öde, verlassene Insel des Marmarameeres gebracht und starben dort unter der Sonne an Tollwut.
Eine dritte Variante des ›Systems Du Guesclin‹ wurde von den Studenten der
Universität Turin angewendet, die Francesco Pastonchi zu seiner ersten Literaturvorlesung
vor dem Hörsaal erwarteten, dem Ankommenden zeremoniell die Tür öffneten, sie
hinter ihm zumachten und weggingen. - Alberto Savinio, Neue Enzyklopädie.
Frankfurt am Main 1983
Loswerden (19)
Loswerden (20) Da ich noch stand in meiner
ersten Ursache, da hatte ich keinen Gott... Da wollte ich mich selber und wollte
kein anderes: was ich wollte, das war, und was ich war, das wollte ich.
Hier stand ich Gottes und aller Dinge ledig . . . Darum bitten wir, daß wir
Gottes ledig werden: Die Wahrheit ergreifen wir und machen Gebrauch
von unserer Ewigkeit. Denn den höchsten Engeln stehen die Fliege und
die Seelen gleich, dort wo ich stand und wollte, was ich war, und war was ich
wollte . . . - Meister Eckehart, Von der Armut am Geiste (Predigt
Beati pauperes spirittt), nach
(ray)