- J. L. Borges, Vorwort zu: Arthur Machen, Die leuchtende Pyramide. Stuttgart
1983 (Die Bibliothek von Babel, Bd. 16)
Literatur (2) Wir waren in der Rue de Rennes
zum Abendessen eingeladen. Bei Tisch hatte ihm jemand aus der Hand
lesen wollen, und Jarry bewies, daß er alle Linien doppelt besaß. Um seine
Kraft zu zeigen, zerschlug er mit der Faust umgedrehte
Teller und verletzte sich dabei schließlich. Der Aperitif, die Weine hatten
ihn in Erregung versetzt. Die Liköre gaben ihm schließlich
den Rest. Ein spanischer Bildhauer wollte seine Bekanntschaft machen und sagte
ihm Artigkeiten. Aber Jarry bedeutete dem Unglücksmenschen, den Salon zu verlassen
und sich nicht wieder blicken zu lassen, und versicherte mir, daß ihm der Kerl
die unehrenhaftesten Angebote gemacht hätte. Nach ein paar Minuten kam der Spanier,
der geflohen war, zurück, und Jarry gab sofort einen Revolverschuß auf ihn ab.
Die Kugel verfing sich in einer Gardine. Zwei schwangere Frauen, die in der
Nähe standen, fielen in Ohnmacht. Den Männern war das auch nicht ganz geheuer,
und zu zweit überwältigten wir Jarry. Auf der Straße sagte er mit der
Stimme des Père Ubu zu mir: »War das nicht schön wie Literatur? Aber ich vergaß,
die Rechnung zu bezahlen.« - (
apol
)
Literatur (3) Es gibt eine Literatur, die nicht bis zur gefräßigen Masse vordringt. Schöpferwerk, geboren aus einer wirklichen Notwendigkeit des Verfassers und für ihn selbst. Erkenntnis des höchsten Egoismus, wo die Gesetze verbleichen. Jede Seite muß explodieren durch den tiefen und schweren Ernst, den Wirbel, den Rausch, das Neue, das Ewige, durch den zerschmetternden Bluff, durch die Begeisterung der Grundsätze oder durch die Art, wie sie gedruckt ist. Das ist eine schwankende Welt, auf der Flucht, den Schellen der höllischen Tonleiter vermählt, und auf der andern Seite: neue Menschen. Heftig, sich bäumend, Reiter des Glucksens. Eine verstümmelte Welt und die literarischen Medikaster haben Verbesserungsideen.
Ich sage euch: es gibt keinen Anfang, und wir zittern nicht, wir sind nicht sentimental. Wir zerreißen, wütender Wind, die Wäsche der Wolken und der Gebete und bereiten das große Schauspiel des Unterganges vor, den Brand, die Zersetzung. Bereiten wir die Unterdrückung der Trauer vor und ersetzen wir die Tränen durch Sirenen, gespannt von einem Kontinent zum andern. Standarten der intensiven Freude und Witwer der Gifttraurigkeit, m Dada ist das Wahrzeichen der Abstraktion; die Reklame und die Geschäfte sind auch poetische Elemente.
Ich zerstöre die Gehimschubkästen und die der sozialen Organisation: überall
demoralisieren, die Hand vom Himmel in die Hölle werfen, die Augen von der Hölle
in den Himmel, das fruchtbare Rad eines Weltzirkus wieder aufrichten in den
realen Mächten und der Phantasie jedes Individuums.-
Tristan Tzara 1918, nach: Dada-Almanach 1920. Hg. Richard Huelsenbeck im Aufrag
des Zentralamts der deutschen Dada-Bewegung. Nachdr. Hamburg 1980 (Edition Nautilus)
Literatur (4) Es gibt keine Literatur ohne Abtrünnigkeit, Unfügsamkeit, Gleichgültigkeit. Abtrünnigkeit wovon? Von jedem solidarischen Gehorsam, jeder Einwilligung ins eigene oder fremde gute Gewissen, jedem mitmenschlichen Gebot. In erster Linie entschließt sich der Schriftsteller, unnütz zu sein. Wie oft haben ihm nicht die nützlichen Menschen ihre alte Schmähung ins Gesicht geschleudert: »Hanswurst.« So sei es: der Schriftsteller ist auch Hanswurst. Er ist der fool: jenes Wesen, welches das Menschliche nur streift, welches die Gotteslästerung, den Spott, die Gleichgültigkeit in die Nähe des potentiellen Mordes treibt. Für den Hanswurst gibt es keinen Platz in der Geschichte, er ist ein lusus, ein Irrtum.
Vom Grund auf asozial, wird der Deserteur seine listenreiche Flucht abstimmen auf die zwingenden Strukturen seiner Zeit. Er verabscheut die Ordnung und das gute Gewissen, und die Komplizität der beiden ist ihm widerlich. Wo jener lächerliche middle aged, der MANN, triumphiert, muß er sich tarnen, muß Haken schlagen, muß die Flucht ergreifen. Muß sich tagtäglich mit tragischer und exakter Gebärde von den euphorischen Mythen des verlogenen guten Gewissens reinigen: der kollektiven Weisheit, dem Fortschritt, der Gerechtigkeit.
Mit unstetem, tückischem Blick sucht er beharrlich nach den Indizien der Gewalt, mineralischen Hieroglyphen auf einer Hand, die nur zum Teil menschlich ist, nach dem Moos, das unsern Mund überwuchert, nach den geometrischen Wundspuren der Zersetzung; er steht auf seiten des Todes, dieser schreienden, unüberbietbaren Ungerechtigkeit, dieses köstlichen Paradoxons, des ironischen Ortes, zu dem man gelangt, wenn man aufhört zu gehen. Er wählt sich unterirdische, nicht asphaltierbare Gänge als Aufenthalt. Ihn verlangt nach einer besonderen Freiheit, die für jeden Schriftsteller verschieden ist: keinesfalls ist es eine liberale Freiheit, und in der Tat, der Liberale toleriert sie nicht. Sie ist blasphemisch, zerstörerisch. Liebevolle Freiheit erstickt ihn, sie hat den Beigeschmack von ehrbarer, perfektionistischer Kollaboration. Er kann in jeder Atmosphäre überleben, sie muß nur verpestet sein. Wo die Finsternisse des Optimismus herrschen, ist er ein heimlicher Grenzgänger, der mit priesterlicher Umsicht den Tabernakel der Gifte bei sich trägt. Von Natur aus anarchisch, hält er stets Kontakt zu den Gängen der Unterwelt, jenen vorhangverhangenen, schlupfwinkeligen Labyrinthen, in die sich der tugendsame Blick des Humanisten nicht hineinwagt.
Die Literatur ist anarchisch und folglich eine Utopie: als solche löst sie
sich ununterbrochen auf, um neue Form zu gewinnen. Wie alle Utopien ist sie
infantil, aufreizend, verwirrend. - Giorgio Manganelli, Literatur
als Lüge. Nach
(man)
Literatur (4) Kürzlich hat man herausgefunden,
daß ›heilig‹ auf einen Grad des Stillstands
zutrifft, wo Stabilisierung über alle Zeit vorangeschritten ist. Es ist nichts
Heiliges an der Literatur, sie ist von einem Ende zum anderen verdammt. Es ist
nichts in der Literatur außer Wandel, und Wandel ist Spott.
Ich schreibe, was mir verdammt noch mal gefällt, wann immer es mir verdammt
noch mal gefallt und wie immer es mir verdammt noch mal gefällt, und es wird
gut sein, wenn der wahrhaftige Geist des Wandels daraus spricht. - William
Carlos Williams, Prolog zu
(kore)
Literatur (5) Poe hatte genau begriffen, wozu die Literatur einzig und allein berufen war und was ihr einziger Sinn sein mußte, um in einer Welt bestehen zu können, die im Begriff war, fremd und feindlich zu werden. Schwindel und Vision mußten die Grundlagen der literarischen Arbeit werden. Der Schwindel setzt eine >unordentliche< geistige Klarheit und den festen Willen voraus, den Leser zu hintergehen, zu ködern, zu umgarnen, ihn zu zwingen, sich als höchste Weisheit etwas vorschwindeln zu lassen. Der Schwindel ist dann auch der goldene Weg zur Vision, zum märe tenebrarum, dem Meer der Finsternis, zu dem man nicht durch Trunkenheit gelangt, sondern vorsätzlich und durch sicheres Kalkül, denn nur wer weiß, wo sich diese >Finsternis< befindet, darf es wagen, dorthin aufzubrechen, ohne zugrundezugehen. Poe wußte auch - und das ist das Wesentliche, was er uns zu sagen hat und was ihn uns so notwendig, ja unentbehrlich macht —, daß die Literatur ohne jene >Finsternis< kernen Sinn mehr hätte.
Die ganze Literatur muß - ausnahmslos - eine Niederfahrt zu den Unterirdischen
werden, und diese Niederfahrt muß bei klarem und gleichzeitig bangendem Bewußtsein
einem deutlich vorgezeichneten und eingehend auf der Karte studierten Weg folgen,
den Licht und Schatten beleben, welche beide die Sprache kühn berühren muß.
In dem Augenblick, wo die ›Kultur‹ aus der Hölle
auszieht, wird diese zum absoluten Eigentum der Literatur, jenes mysteriösen,
komödiantenhaften und magischen Gebrauchs
der Worte, der in allem das Gegenteil der ›Kultur‹ ist.
-
Manganelli furioso. Handbuch für unnütze Leidenschaften. Berlin 1985
Literatur (6)
Literatur (7)
Literatur (8)
Literatur (9)
Literatur (10)
- N.N.
Literatur (11) Pause Er hat sein Buch
nach seiner Rückkehr verfaßt, also sehr jung, und sein ganzes Leben hat er dann
versucht, das nächste über Mortiers Sohn zu schreiben, ohne daß es ihm gelungen
wäre, er sagte, daß er nicht mehr daran glaube, jahrelang hat er immer wieder
neu angefangen, er fühlte sich gehemmt. Pause. Ich habe ihm gesagt, warum
sagen Sie nicht einfach die Wahrheit, das wäre doch die beste Art und Weise,
frei zu sein, er sagte immer, transponieren transponieren, die Literatur transponiert
Poesie Kunst Symbol ich weiß nicht was noch, was für eine Qual das war, man
kann beinah sagen, daß er daran gestorben ist. Pause. Alles, was er sah,
verwandelte er für seinen Roman, ein Sonnenuntergang hinter dem Wald von Furet
wurde zur Morgendämmerung über einer Oase, das dicke Gesicht des Straßemwärters
zu dem eines Araberführers, ein Satz von irgend-wem im Wirtshaus wurde zu irgendwas
anderem, das jemand anders sagte ... Pause, Ich habe das nie begreifen
können, aber ich bin auch nicht sehr intelligent. Pause. Daß man nicht
sagen kann, was man sieht und was man hört. Pause. Ich habe ein paarmal
versucht, das zu begreifen, mir die Gäste anders vorzustellen wenn ich bediente,
aber das brachte nur alles durcheinander, ich habe meinen Beruf gern, und die
Leute gebrauchen manchmal Wörter oder Ausdrücke ... das nahm mir die ganze Freude.
Mortin meinte, ich sei sentimental. - Robert Pinget, Monsieur Mortin.
Frankfurt am Main 1966
Literatur (12) da ich
1
schreibe, lieber eins sage, da ich kein Freund der Literatur bin, aber
eine Einteilung brauche, denn unter Literatur versteh ich den geglückten
Versuch, sich verständlich gemacht zu haben, da aber Verständnis ein
Irrtum ist und ich dennoch die Kapiteleinteilung genommen habe, und die
Gedanken, mit denen ich schon tagelang spiele, mit mir zu spielen
beginnen, und ich an ihrer Freizügigkeit nicht teil habe, vollständig
Opfer bin, willenlos im Tunnel der grünen und Garaschenmauern, daß, als
schösse wie aus einem Vorrat fetzender schriller greller bunter farbiger
Gedanken eine Handvoll wie Fäden an einer Marionette in den Kopf eines
alten Mannes, der mir den Riedenerweg hoch entgegenkommt, er plötzlich
das Gesicht des verstorbenen Konrad Adenauer gehabt hat und ich
weiterstrebe und in stehender Stellung meine Person, oder welche Person
es ist, die RippenbÖgen aus meiner Brust vor mich her drückt und ich
beinah falle, da ich in diesen Augenblicken ständig vor mich hinfalle,
als sei es wahr, daß, aber davon später, denn ich kann es nicht
wahrhaben, als könnte es sein, daß sie, daß überhaupt jemand, daß meine
Freundin, aber davon später, gleichsam an den Zäunen hinge hundertfach
jetzt, jetzt natürlich, für den Fall, daß ich es wahrhaben könnte, aber
jetzt laßt mich in Ruhe, jetzt Ruhe, Ruhe, damit ich weiterkomme,
weiter, als sei doch nichts geschehen, was geschehen ist, geschah, wird
wird, da mir alles zusammenfällt, weil ich anfange, was schon
zusammengefallen ist, sie, und ich fliege wie der letzte japanische
Jäger auf Pearl Harbor, der auch noch was zerstören möchte und nur
Rauchqualm vorfindet, in dem nur noch die Zerstörung dessen nachzittert,
was gewesen ist, da ich also weiterschreibe und allerlei um mich her
steht, als seien es nur Pseudonyme, da sie aber nur Reste, farbige
Kannelüren im Perserschutt, den wegzuschaffen, noch dazu ohne die
Touristen zu stören und in der Regenzeit gehts sowieso nicht, da ich
also weiterschreibe und eine neue Zeile beginne, bleiben mir die Freuden
der Rekonstruktion fremd, bleibt mir die Trauer komplett und ich brauch
kein Jota von dem aufzugeben, was war, und wenn ich nur an ein einziges
Haar denke, das gewesen ist und bis zur Verwesung noch tagelang sein
wird, sagt dieses Haar: Ehe Abraham ward bin ich, da es so ist, und ich
aufrufe, sich vor meiner Nase zu verneigen, die sich wie eine wunderbare
Nase den Geschmack der Verbrennung nicht stumpf machen lassen kann, wie
ein Auge, das sich nicht satt sieht und lieber den Körper seines Wirts
verläßt, als unterm Lid zu verfaulen, wie eine Wunde.wie ein Bewußtsein,
das die Ausschnitte der Welt überm Raster der Herzschläge betrachtet,
wie Hyperbelbögen aus dem All, die immer näher kommen und doch die Brust
nicht zerdrücken, bis dann ein Schüler radiert, und, so ein Dummkopf,
die Hyperbel aus dem Nullpunkt des Koordinatensystems ins Unendliche
treiben läßt, ich weiß nicht mehr recht, und eine nachträgliche
Information, wäre das nicht wie das schändliche Interesse für einen
Toten,den man zu Lebzeiten zu wenig kennengelernt hat? - (acht)
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