Lippfisch  Trotz seiner bescheidenen Größe war der Lippfisch, der seinen Namen seinem, gelinde gesagt, negerhaften Profile verdankt, in grauer, umnebelter Vorzeit ein gefürchteter Räuber, ständig auf Wasserwanzenhatz und fortwährend eifrig bemüht, den hochnäsigen Libellenlarven, wenn schon nicht den Garaus zu machen, so doch manch gehörigen Schrecken einzujagen. In den letzten Jahrhunderten begannen seine natürlichen Lebensräume immer mehr zu schrumpfen, bis sie schließlich ganz versandeten. Der Mensch tat das ihm eigne Übrige, und so verkam der Lippfisch zwangsläufig zum Zierfisch, der sich seines scheinbar obszönen Verhaltens wegen besonders in Bordellen bis heute großer Beliebtheit erfreut.

Erfreut? Konnte dies denn nicht vielleicht eine höchst unfreiwillige Beliebtheit sein? Oh, wie lautstark würde er, mit Hirn und Verstand des Menschen gesegnet, auf die Ursachen seines übertrieben wirkenden Saugbedürfnisses hinweisen. So aber bleibt es des Biologen Pflicht, den Fisch zu rehabilitieren und all die frivolen Maulwerke zum Schweigen zu bringen, die lauthals die Mär verbreiten, der Lippfisch wäre ein gamriger Schweifzuzzler, der des eigenen erotischen Kitzels wegen nicht einmal davor zurückschreckt, die Brunzrüssel seiner ärgsten Feinde abzuschlotzen.

Verdient sein Verhalten nicht eine völlig andere Interpretation, wenn wir uns die vor vielen Jahren noch intakten Teiche mit ihren darin schwimmenden Ahnen unseres Protagonisten vor Augen führen? Laß Dich, lieber Schüler, einmal bei den Händen nehmen und wirf einen Blick in die Vergangenheit, träum Dich in die unversehrte Gewässerwelt der Provinz Hu Ynang zur Kling E Ling E Ling-Zeit und werde Zeuge der wunderbaren Entwicklung einer Symbiose zwischen so unterschiedlichen Wesen wie Lippfisch und Seegurke.

In jenen ungeschützten Flachteichen hielt sich des Lippfisch's kleiner Urahn nie unweit und doch ständig in der Nähe seiner wurstförmigen Pflanzenkameraden auf. Nur für die Jagd entfernte er sich, jedoch jederzeit bereit, auf flinker Flosse blitzschnell zurückzuschießen, um seinen Lippenring über eine fest mit dem Grunde verwurzelte und darob nicht einmal saure Gurke zu stülpen.

Eine dumme Marotte? Mitnichten! Wie lebensnotwendig diese Nachbarschaft mit dem biederen Gewächs für unser Leichtgewicht war, verdeutlicht der Hinweis auf die Beschaffenheit seiner Heimatteiche: Diese lagen weitestgehendst (!) in flachen Muldenlandschaften, hatten geringe Tiefen und waren kaum von schützendem Baum- beziehungsweise Strauchwerk umsäumt, so daß sich die dort herrschenden überaus kräftigen Luftströmungen ohne weiteres auf die Wasseroberflächen übertrugen und nicht selten durch Strudel und Strömungsschübe bis auf den Grund Turbulenzen entfachten, denen das Wassergetier, mit Ausnahme von Süßwasserkrill und Räuberwels, hilflos ausgesetzt war. Dies wäre vielleicht nicht so lebensbedrohlich für den Urahnen unseres Lippfisches gewesen, wenn nicht regelmäßig bei Sturm und Strömung sich zahlreiche Katzen bei den Stränden eingefunden hätten, die wie eine Bande ausgehungerter Strandpiraten triefenden Maules aber doch kaltblütig gierig darauflauerten, daß die Bö unseren kleinen Jäger, welcher eben gerade noch selbstvergessen einem Taumelkäfer nachgesetzt, hilflos an das Ufer treibe, um dort von ihnen einkassiert zu werden. Während die Raubwelssippe sich bräsig in den Sand wühlte, war der Kleine auf die Seegurke angewiesen, sie war in dieser Situation sein rettender Lebensanker!

So bildete sich recht bald zwischen den beiden eine feste Lebensgemeinschaft, deren Vorteil für die Gurke ihrerseits nun darin bestand, daß der Fisch die Aufgabe ihrer Befruchtung übernahm, welches auf folgende Weise geschah:

Bei Sturme im Zustand seiner Hilfsbedürftigkeit sich an der nächstbesten, zufällig weiblich und fruchtseligen Gurke festsaugend, entließ der Fisch gleichzeitig die in seiner geräumigen Rachenhöhle befindlichen fruchtforschen Pollensamen jener männlichen Gurke, die ihm gestern noch in reißender Strömung lebensrettenden Halt geboten hatte. Diese Samen schwänzelten nun mit Macht auf die zu bestäubenden Eischlauchkümmel der jetzigen Wirtspflanze unseres Fisches und bildeten so das Risioppitationsmagma für eine neue Gurkengeneration. Der kleine Schuppenträger war durch jagdbedingtes häufiges Wechseln seiner Standorte natürlich gezwungen, solche Kontakte mit möglichst vielen Gurken zu pflegen und wurde so ganz zwangsläufig und nebenbei ein fleißiger Postillon d'amour, der den Fortbestand der Seegurke sichern half. Die freundlichen Eingeborenen nannten ihn deshalb auch wohlwollend ihre »Biene des flachen Wassers« (Pießi Pießi).

Mit dem Versiegen der Heimatgewässer unserer beiden Freunde allerdings verschwand die Seegurke auf Nimmerwiedersehen von unserem Planeten, da sie geschmacklich und ästhetisch uns Menschen nicht so sehr zusagen wollte. Dem Lippfische jedoch hielten wir einen Fluchtweg in unsere oft im Grenzgebiet zwischen ärmlich und erbärmlich ausgestatteten Biotope offen, wo er bis heute ein trauriges Dasein führt, mißverstanden und Spott und Lächerlichkeit preisgegeben als das »Schwein unter den Fischen«.   - Ernst Kahl, Bestiarium perversum. Bd. 1. Hamburg 1985

 

Fisch

 

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