Liederlichkeit  Mein Onkel hat etwas Furchterregendes an sich. Neben dem Appetit auf Autorität kommt keine andere Regung bei ihm auf.  Alles sonstige Empfinden hat er nicht verdrängt, sondern mit der Wurzel ausgerissen. An seine Stelle traten von ihm als nützlich erachtete Zerrbilder. Diese erpichte Herrschgier, weit mehr Wirkung als Ursache seines Geizes, entreißt ihn sogar den Krallen der beiden Leidenschaften, die seine Verderbtheit zeugten: dem Hochmut, der ihn dazu verleitet, die Kräfte der anderen fälschlicherweise zu unter- oder zu überschätzen, und der Genußsucht, die ihn mit der Lockung des Fleisches immer weiter von seinem Ziele abbringen könnte.   Ich habe in meinem Leben selten jemanden mit soviel gesundem Menschenverstand und soviel Unvoreingenommenheit Personen und Dinge beurteilen hören. Für seine Liederlichkeit nur dieses eine Beispiel: Seine vor einigen Jahren verstorbene Frau war kokett und anspruchsvoll; das Geld rieselte ihr nur so durch die Finger, auf jeden Fall aber war sie hübsch. Am Morgen nach seiner Hochzeit legte sich mein Onkel eine Geliebte zu; er bezahlte ihr einen bestimmten monatlichen Betrag — damit er in bestimmten psychologischen Momenten gegen Geldforderungen, wie sie sich auf dem Kopfkissen geflüstert hervorwagen, taub bleiben konnte. Viel Geld herauszurücken, wäre ihn allzu hart angekommen, aber vielleicht hätte er sich doch dazu bewegen lassen. Aber sich durch die Liebe, bei Tisch oder im Bett, beherrschen zu lassen, das lehnte er ab. - Georges Darien, Der Dieb. Nördlingen 1989 (Die Andere Bibliothek 54, zuerst 1897)
 
 

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