Liebeswahnsinn   Die Figur des Schwertkönigs, Versuch, mit einem einzigen Konterfei die kriegerische Vergangenheit wie die wehmütige Gegenwart wiederzugeben, wurde von ihm an den linken Rand des Quadrats auf die Höhe der Schwert-Zehn gelegt. Und gleich waren unsere Augen wie geblendet vom dichten Kampfesstaub, wir hörten die Drommeten, schon brachen die Lanzen in Stücke, schon stießen die Pferdemäuler aufeinander und vermischten ihren ;regenbogenfarbenen Schaum, schon schlugen die Schwerter sei's mit der Schneide sei's mit der Fläche sei's auf die Schneide sei's auf die Fläche anderer Schwerter, und wo ein Haufe lebender Feinde in die Sättel sprang und beim Herunterkommen nicht mehr die Pferde, sondern das Grab vor sich fand, dort mittendrin war Roland, der Paladin, der seine Durendarte im Wirbel schwang. Wir hatten ihn erkannt, er war es, der uns seine Geschichte unter Qual und Stocken erzählte, den eisernen Finger auf eine jede Karte gedrückt.

Nun deutete er auf die Schwertkönigin. Inder Gestalt dieser blonden Frau, die inmitten all der scharfen Schneiden und eisernen Harnische das unergründliche Lächeln eines Spiels der Sinnlichkeit zeigt, erkannten wir Angelika, die aus Kathai zum Ruin der Frankenheere eingetroffene Zauberin, und wußten, daß Graf Roland noch in sie verliebt war. Nach ihr gähnte die Leere. Roland legte eine Karte dahin: die Stab-Zehn. Wir sahen, wie der Wald sich dem Vordringen des Helden widerstrebend öffnete, die Nadeln der Fichten sich sträubten wie die Spitzen eines Stachelschweins, die Eichen die muskulöse Brust ihrer Stämme weiteten, die Buchen ihre Wurzeln aus dem Boden heraustreten ließen, ihm den Weg zu verhindern. Der ganze Wald schien zu rufen: »Geh nicht! Warum verläßt du die metallenen Schlachtfelder, Reich der Diskontinuität und Unterscheidung, die dir maßgerechten Gemetzel, wo sich dein Talent des Zerlegens und Ausschließens hervortut, und wagst dich in die grüne schleimige Natur, in die Windungen lebender Kontinuität? Der Liebeswald, Roland, ist kein Ort für dich! Du verfolgst einen Feind, vor dessen Nachstellungen kein Schild dich schützen kann. Vergiß Angelika! Kehre um!» Doch es stand fest, daß Roland auf diese Warnungen nicht hörte und sich nur mit einer einzigen Vision abgab: der auf dem siebenten Arkanum dargestellten, die er nun auf den Tisch legte, also dem Wagen. Der Künstler, der mit leuchtenden Farben die Miniaturen unserer Tarockkarten gefertigt, hatte als Wagenlenke keinen König gemalt, wie man ihn auf den gewöhnli cheren Karten stets sehen kann, sondern eine Frau in Gewände einer Zauberin oder einer Herrscherin des Orients, die zwei geflügelte Schimmel am Züge führt. So stellte sich Rolands wirre Phantasie Angelikas zauberischen Weg durch den Wald vor, es war eint Fährte fliegender Hufe, die er verfolgte, leichter ah Schmetterlingsfüße, ein Staub von Gold auf den Blättern, wie ihn gewisse Schmetterlinge hinterlassen, war die Spur, die ihn durch die Verschlungenheit führte.

Unglückseliger! Er wußte noch nicht, daß indessen im dickesten Dickicht eine zarte und glühende Liebesumarmung Angelika und Medoro vereinte. Das Arkanum Liebe mit all dem sehnsüchtigen Verlangen, das unser Miniaturmaler in den Blick der beiden Verliebten hineinzulegen gewußt hatte, war vonnö-ten, es ihn erkennen zu lassen. (Wir begannen zu begreifen, daß dieser Roland mit seinen Eisenhänden und seiner Verträumtheit von vorneherein die besten Tarockkarten aus dem Spiel bei sich behalten und die andern Tischgenossen mit ihrem Hinblättern von Pokalen und Stäben, Gold und Schwertern ihre Erlebnisse hatte radebrechen lassen.} Die Wahrheit machte sich Platz in Rolands Sinn: im feuchten Grunde des weiblichen Waldes gibt es einen Eros-Tempel, wo andere Werte gelten als diejenigen, die seine Durendarte schafft. Angelikas Favorit war keiner der berühmten Anführer, sondern ein Milchbart aus dem Gefolge, rank und gefallsüchtig wie ein junges Mädchen; sein vergrößertes Konterfei erschien auf der nächsten Karte: Stabbube.

Wohin waren die Liebenden geflohen? Wohin auch immer sie geeilt sein mochten, allzu fein und flüchtig war die Substanz, aus der sie beschaffen, um den klotzigen Eisenhänden des Paladins eine Griffigkeit zu bieten. Als Roland am Scheitern seiner Hoffnungen keinen Zweifel mehr hatte, machte er ein paar unkontrollierte Bewegungen - Schwert ziehen, Sporen geben, Bein im Bügel durchstrecken - und dann ging in ihm etwas entzwei, zerknallte, brannte durch, schmolz, und augenblicklich verlosch das Licht seiner Vernunft und er blieb im Dunkel. Jetzt berührte die durchs Quadrat gezogene Kartenbrücke die andere Seite auf der Höhe der Sonne. Ein Amorputto flog mit Rolands Verstandeslicht auf und davon, hoch über Frankreichs von den Ungläubigen umfochtene Erde hinweg aufs Meer, das sarazenische Galeeren ungestraft durchqueren werden, dieweil der Christenheit robustester Held in der Finsternis des Wahnsinns liegt.

Die Kraft beschloß die Reihe. Ich machte die Augen zu. Der Anblick dieses Kleinods der Ritterschaft, verwandelt in eine blinde tellurische Explosion gleich einem Wirbelsturm oder einem Erdbeben, überstieg meine Kräfte. Wie einst die mohammedanischen Heerscharen durch Durendarte niedergemäht wurden, so streckte jetzt das Wirbeln seiner Keule die wilden Tiere nieder, die in den Wirren der Invasionen auf die Küstengebiete der Provence und Kataloniens übergewechselt waren; ein Mantel aus rotblonden, gescheckten und gefleckten Bälgen wilder Tiere wird die Felder überziehen, die zur Wüste geworden sind, wo er vorübergegangen: nicht der umsichtige Löwe noch der langgestreckte Tiger noch der flüchtige Leopard werden dies Massaker überleben. Nachher wird es den Elefanten, das Rhinozeros und das Nil- oder Flußpferd treffen: über das schwielige, ausgedorrte Europa breitet sich eine immer höher werdende Schicht aus Dickhäuterleder.

Der eisern trotzige Finger des Erzählers ging in die nächste Zeile, das heißt, er machte sich daran, von links nach rechts die Reihe darunter zusammenzusetzen. Ich sah (und hörte) das Krachen der Eichenstämme, die von dem Wahnsinnigen auf der Stab-Fünf entwurzelt wurden, bedauerte die Tatenlosigkeit von Durendarte, die auf der Schwert-Sieben an einen Baum gehängt und vergessen ward, bejammerte den Verschleiß an Energie und Hab und Gut auf der Münzen-Fünf (die zweckentsprechend in das leere Feld gefügt wurde).

Die Karte, die er nun mittenhinein legte, war Der Mond. Ein kalter Widerschein leuchtet über der dunklen Erde. Eine Nymphe von blödem Aussehen reckt die Hand zur vergoldeten Himmelssichel, als spielte sie Harfe. Wahr ist, daß die Saite abgerissen an ihrem Bogen hängt: der Mond ist ein besiegter Planet und die Eroberin Erde ist eine Gefangene des Mondes. Roland durchrast eine lunarische Erde.

Die Karte des Narren, die uns gleich darauf gezeigt wurde, war in dieser Hinsicht mehr als beredt. Roland, der indessen sein größtes Quantum Grimm losgeworden, hatte sich, die Keule wie eine Angelrute über der Schulter, verhärmt wie ein Totenschädel, zerlumpt und ohne Hosen und den Kopf mit Federn bedeckt (in seinem Haar war alles mögliche hängengeblieben, Drosselfedern, bestachelte Kastanienschalen, Mäusedorn und Lausekraut, Würmer, die an dem erloschenen Hirn saugten, Pilze, Moose, Galläpfel, Blütenblätter), hinabbegeben ins chaotische Herz der Dinge, in den Mittelpunkt des Tarockquadrats und der Welt, zum Schnittpunkt aller denkbaren Ordnungen.

Seine Vernunft? Die Pokal-Drei rief uns in den Sinn, daß sie sich in einer Ampulle befand, deponiert im Tal der Verlorenen Vernünfte; da aber die Karte einen umgestürzten Becher zwischen zwei aufrechten darstellte, war anzunehmen, daß sie sich nicht einmal an jenem Lagerplatz erhalten hatte.   - Italo Calvino, Das Schloß, darin sich Schicksale kreuzen. München 1987

Liebe Wahnsinn

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