iebenswürdigkeit  Wenn ich zurückblicke, habe ich das Gefühl, daß unser Haus ein wirklich glückliches Haus war. Das lag vornehmlich an meinem Vater, denn er war ein sehr liebenswürdiger Mann. Die Eigenschaft der Liebenswürdigkeit wird heutzutage nicht sonderlich hoch geschätzt. Die Leute wollen eher wissen, ob ein Mann klug und fleißig ist, ob er zum Wohl der Gemeinschaft beiträgt, ob er in der Ordnung der Dinge >zählt<.

Nach heutigen Vorstellungen würde man wohl keine sehr hohe Meinung von meinem Vater haben. Er war ein Nichtstuer. Zu seiner Zeit privatisierte man, und wenn man über ein eigenes Vermögen verfügte, arbeitete man nicht. Zudem vermute ich stark, daß Arbeit meinem Vater nicht besonders gelegen hätte.

Jeden Morgen verließ er das Haus in Torquay und begab sich in seinen Club. In einer Kutsche kehrte er zum Mittagessen zurück. Anschließend eilte er abermals in den Klub, spielte den ganzen Nachmittag Whist und war rechtzeitig wieder daheim, um sich zum Dinne umziehen zu können. In der Sommersaison verbrachte er seine Tage im Cricket Club, dessen Präsident er war. Gelegentlich organisierte er auch Liebhaberaufführungen. Er besaß eine ungeheure Zahl von Freunden und liebte es, sie als Gäste bei sich zu sehen. Wir hatten jede Woche eine große Dinnerparty daheim, und für gewöhnlich dinierten er und Mutter zwei- oder dreimal in der Woche auswärts.

 Erst später wurde mir klar, wie beliebt er war. Nach seinem Tod kamen Briefe aus aller Welt, Und die Handwerker der Stadt, Kutscher, Angestellte - immer wieder trat irgendein alter Mann auf mich zu und sagte:

Dabei hatte er keine hervorstechenden Eigenschaften. Er war nicht besonders intelligent. Ich denke, er hatte ein schlichtes und gutes Herz und zeigte echtes Interesse an seinen Mitmenschen. Er besaß einen ausgeprägten Sinn für Humor, und es fiel ihm leicht, die Leute zum Lachen zu bringen. Es war nichts Niedriges an ihm, er kannte keinen Neid, und er war unglaublich großzügig. Er besaß natürliche Fröhlichkeit und heitere Gelöstheit.  - Agatha Christie, Meine gute alte Zeit. Autobiographie einer Lady. München u. a.  ca. 1998 (zuerst 1977)

Liebenswürdigkeit (2) Im Juli 1910 wurden unter dem Keller des Hauses von Dr. Hawley Harvey Crippen, Hilldrop Crescent, London, menschliche Überreste entdeckt. Dr. Crippen, der England ein paar Tage zuvor mit seiner Geliebten, Ethel Le Neve, verlassen hatte und sich nach Kanada unterwegs befand, wurde an Bord der >Montrose< auf hoher See verhaftet, wobei die Telegrafie zum erstenmal zur Verfolgung eines gesuchten Verbrechers benutzt wurde. Im Oktober stellte man ihn im Old Bailey vor Gericht und befand ihn schuldig des Mordes an seiner Ehefrau Cora (bekannt als Belle Elmore) vermittels Skopolamin-Vergiftung. Er wurde im November 1910 hingerichtet. Ethel Le Neve wurde in einem gesonderten Prozeßverfahren von der Anklage der Beihilfe nach der Tat freigesprochen.

Filson Young schreibt in seiner Einführung zu The Trial of Hawley Harvey Crippen in der Reihe >Denkwürdige Prozesse in Großbritannien<: »Wir mögen von Crippen die Vorstellung eines haßerfüllten Menschen haben; aber niemand, der mit ihm in Berührung kam, hat ihn so beschreiben können.« Dieser Aspekt des Verbrechens - der liebenswürdige Mörder - war es, was Chandler interessierte.  - (cha)

Liebenswürdigkeit (3)  Über die Königin von Spanien erfährt man tausenderlei. Sie ist Spanien völlig ausgeliefert, es bleiben ihr nur noch vier französische Kammerfrauen. Der König überraschte sie beim Frisieren. Er hatte selbst die Tür geöffnet. Sie wollte sich vor ihm auf die Knie werfen und ihm die Hand küssen. Er kam ihr zuvor. So knieten sie beide! Sie heirateten ohne Zeremonie und zogen sich zurück, um zu reden. Sie versteht Spanisch und war spanisch gekleidet. In Burgos eingetroffen, gingen sie um acht Uhr zu Bett und verließen es nicht bis am folgenden Morgen um zehn. Die Königin hat von Burgos an Monsieur geschrieben und ihm gemeldet, sie sei sehr glücklich und finde den König viel liebenswürdiger, als man ihr gesagt habe. Der König ist sehr verliebt, die Königin sehr gut beraten und hat sich ausgezeichnet gehalten.  - (sev)

Liebenswürdigkeit (4)  Um das Gemeine, wenn man nicht selbst gemein ist, mit der Kraft und mit der Leichtigkeit zu behandeln, aus der die Anmuth entspringt, muß man nichts sonderbarer finden als das Gemeine, und Sinn fürs Sonderbare haben, viel darin suchen und ahnden. Auf die Art kann auch wohl ein Mensch, der in ganz andern Sphären lebt, gewöhnliche Naturen so befriedigen, daß sie gar kein Arg aus ihm haben, und ihn für nichts weiter halten, als was sie unter sich liebenswürdig nennen. - Friedrich Schlegel, nach: Novalis, Blüthenstaub (1798)

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