Lese-Arten     Nach einer Weile sprichr er dich an, genauer, er spricht wie ins Leere, meint aber zweifellos dich:

»Wundern Sie sich nicht, wenn Sie meine Augen umherschweifen sehen. Effektiv ist das meine Art zu lesen, nur so wird die Lektüre für mich ergiebig. Wenn mich ein Buch wirklich interessiert, kann ich ihm nur über wenige Zeilen folgen, und schon beginne ich abzuschweifen: Mein Geist fängt einen Gedanken auf, den ihm der Text suggeriert, oder ein Gefühl, eine Frage, ein Bild, und beginnt zu wandern, springt von Gedanke zu Gedanke, von Bild zu Bild und begibt sich auf eine Reise, die ich fortsetzen muß bis ans Ende, selbst wenn ich mich soweit vom Buch entferne, daß ich es aus den Augen verliere. Ich brauche die Anregung durch die Lektüre, und zwar durch eine gehaltvolle Lektüre, auch wenn ich von keinem Buch mehr als nur wenige Seiten zu lesen vermag. Aber schon diese wenigen Seiten enthalten für mich ganze Welten, die ich nicht auszuloten vermag.«

»Ich verstehe Sie gut, mischt ein anderer Leser sich ein, der sein wächsernes Gesicht und seine geröteten Augen von den Seiten seines Buches hebt. »Lesen ist eine diskontinuierliche und fragmentarische Operation. Oder besser ausgedrückt: Gegenstand der Lektüre ist eine punkt- und staubförmige Materie. Im fließenden Fortgang der Schrift unterscheidet die Aufmerksamkeit des Lesers minimale Segmente, Wortverbindungen, Metaphern, syntaktische Kombinationen, logische Abläufe, lexikalische Eigenheiten, die eine äußerst hochkonzentrierte Bedeutungsdichte aufweisen. Sie sind wie die Elementarteilchen, die den Kern eines Werkes bilden, um den alles übrige kreist. Oder wie das leere Loch auf dem Grund eines Strudels, das die Strömungen ansaugt und verschlingt. Durch diese Löcher und Ritzen oder punktförmigen Indizien offenbart sich, aufleuchtend in kaum wahrnehmbaren Blitzen, die innere Wahrheit eines Buches, seine letzte Substanz. Mythen und Mysterien bestehen aus winzigen Krumen, ungreifbar wie der Blutenstaub, der an Schmetterlingsbeinen haftet. Nur wer das begriffen hat, kann auf Offenbarungen und Erleuchtungen hoffen. Darum darf meine Aufmerksamkeit - im Gegensatz zu der Ihren, mein Herr - sich keinen Moment lang von den geschriebenen Zeilen lösen, wenn ich nicht Gefahr laufen will, irgendein aufschlußreiches Indiz zu übersehen. Jedesmal wenn ich auf ein solches Krümchen Bedeutung stoße, muß ich ringsherum weitergraben, um zu prüfen, ob sich das Goldkorn womöglich in einer Goldader fortsetzt. Und darum findet meine Lektüre auch niemals ein Ende: Ich lese und lese wieder und wieder, stets auf der Suche nach einer Bestätigung dessen, was ich in den Ritzen und Falten der Sätze an Neuem entdeckt zu haben glaube.«

»Auch ich fühle das Bedürfnis, gelesene Bücher wiederzu-lesen«, sagt nun ein dritter Leser. »Aber bei jedem Wiederlesen scheint mir, ich läse zum ersten Male ein neues Buch. Bin ich es, der sich ständig verändert und immerzu Neues entdeckt, Momente, die ich zuvor übersehen hatte? Oder ist die Lektüre - die Aktivität des Lesens - wie ein Bau, der Form gewinnt durch Zusammenfügung einer Unzahl von Variablen und sich nie zweimal nach demselben Bauplan erstellen läßt? Jedesmal wenn ich die Gefühle, die ich bei einer früheren Lektüre hatte, wiedererleben möchte, erhalte ich andere, unerwartete Eindrücke und finde die früheren nicht mehr wieder. Manchmal scheint mir, von der einen Lektüre zur anderen sei ein Fortschritt, etwa im Sinne eines tieferen Eindringens in den Geist des Textes oder auch eines größeren kritischen Abstandes. Dann wieder scheint mir, ich behielte die verschiedenen Lektüren ein und desselben Textes gleichwertig nebeneinander im Gedächtnis, begeisterte oder kühle oder ablehnende, über die Zeit verstreut, ohne innere Perspektive, ohne verbindenden Faden. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß die Lektüre - die Aktivität des Lesens - eine Operation ohne Gegenstand ist. Oder anders ausgedrückt, ihr wahrer Gegenstand ist sie selbst. Das Buch ist nur ein äußeres Hilfsmittel oder gar nur ein Vorwand.«

Ein vierter Leser schaltet sich ein: »Wenn Sie die Subjektivität des Lesens hervorheben wollen, kann ich Ihnen nur zustimmen, allerdings nicht in dem zentrifugalen Sinn, den Sie ihr geben wollen. Jedes neue Buch, das ich lese, wird Teil jenes einheitlichen und allumfassenden Buches, das aus der Summe aller meiner Lektüren hervorgeht. Das geschieht nicht ohne Anstrengung: Um jenes Gesamtbuch zu bilden, muß jedes Einzelbuch sich verändern, transformieren, in eine Beziehung treten zu den Büchern, die ich vorher gelesen habe, ihre Fortsetzung oder Weiterentwicklung werden, ihre Widerlegung oder ihr Beiwerk oder ihr Kommentar oder ihr Bezugstext. Seit Jahren komme ich regelmäßig in diese Bibliothek und erforsche sie Band für Band, Regal für Regal, aber ich könnte Ihnen beweisen, daß ich nichts anderes getan habe, als vorzudringen in der Lektüre eines einzigen universalen Buches.«

»Auch für mich führen alle Bücher, die ich lese, zu einem einzigen Buch«, sagt ein fünfter Leser, der hinter einem Stapel dicker Folianten auftaucht, »aber zu einem Buch, das weit zurückliegt in fernen Tagen und kaum noch in meinen Erinnerungen hervortritt. Es erzählt die Geschichte, die für mich vor allen anderen Geschichten kommt und von der ich in allen Geschichten, die ich lese, ein fernes Echo zu hören meine, das sofort wieder verklingt. In allem, was ich lese, suche ich immer nur jenes Buch, das ich einst in meiner Kindheit las, aber ich habe zu wenig davon behalten, um es je wiederzufinden.«

Ein sechster Leser, der die Regale abgeschritten hatte, um sie mit hochgereckter Nase zu inspizieren, tritt an den Tisch. »Für mich zählt am meisten der Augenblick, der dem Lesen vorangeht. Manchmal genügt schon der Titel, um in mir das Verlangen nach einem Buch zu wecken, das vielleicht gar nicht existiert. Manchmal der Anfang des Buches, das In-cipit, die ersten Sätze ... Kurzum, wenn Ihnen wenig genügt, um Ihre Phantasie in Gang zu setzen, so genügt mir noch weniger: die bloße Verheißung der Lektüre.«

»Für mich zählt am meisten das Ende«, sagt ein siebenter Leser, »aber das wahre Ende, das letzte, das im Dunkel verborgen liegt, der Schlußpunkt, zu dem das Buch uns hinführen will. Auch ich suche beim Lesen stets nach Löchern und Ritzen«, stimmt er dem Herrn mit den geröteten Augen zu, »aber mein Blick gräbt zwischen den Wörtern, um zu erkennen, was sich in der Ferne abzeichnet, in den Räumen, die sich nach dem Wort >Ende< erstrecken.«

Der Moment ist gekommen, daß auch du dich nun äußerst. »Meine Herren, ich muß vorausschicken«, sagst du, »mir gefällt es, in den Büchern nur das zu lesen, was dasteht; und die Details mit dem Ganzen zu verbinden; und gewisse Lektüren als definitiv zu betrachten; und mir gefällt es, die einzelnen Bücher auseinanderzuhalten, jedes nach dem, was es an Neuem und Besonderem hat; und vor allem gefallen mir Bücher, die man zügig durchlesen kann, von Anfang bis Ende. Aber seit einiger Zeit geht mir irgendwie alles schief: Mir scheint, es gibt heutzutage auf der Welt nur noch Geschichten, die in der Schwebe bleiben oder sich unterwegs verlieren.«   - Italo Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht. München 2007 (Zuerst 1979)

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