Leprosorium  Ich vernehme aus dem Gebäude zu meiner Linken ein Geräusch von Schritten, einen undeutlichen Klang, zögernd und ruhig, wie von jemandem, der Zeit hat, viel Zeit, Ich höre ein Knarren von Stufen, knirschendes Holz. Die Schritte sind leicht, wie von einer zarten und edlen, hoheitsvollen Gestalt, wahrscheinlich mit einer Schleppe. Ächzend öffnet sich die unermüdliche Tür zum Laubengang einen Spaltbreit, und es erscheint eine weibliche Gestalt. Sie trägt sorgfältig zerrissene, behutsam, mit Methode und Liebe mißhandelte Kleider und ausgetretene Schuhe; ihr Gesicht ist von einem kränklichen Schal, einer Agonie aus farblosem Stoff geschützt. Und doch irre ich mich nicht: diese unbekannte Frau strahlt würdevoll Anmut und Macht aus. Langsam wende ich mich ihr zu und verneige mich, wie um mich zu ihrem Untertan und Getreuen zu erklären. Die Dame lächelt hinter dem Schleier. Ich weiß, daß sie lächelt, denn ich sehe alle ihre Zähne. Dann enthüllt sie ohne Hochmut ihr Gesicht und nimmt mich in ihr Königreich auf; ich weiß jetzt, daß ich im Leprosorium der Königinnen bin. Das Gesicht ist von einem schweigenden Leiden zerstört; es besitzt keine Lippen und die Zähne müssen notgedrungen immer lachen. Die Hand, die den Schleier zurückgeschlagen hat, zeigt abgebrochene Fingerknöchel. Die aussätzige Dame empfängt meine Ehrbezeigung mit einem wohlwollenden Nicken ihres schwankenden Kopfes. Dann hebt sie die Hand und deutet auf etwas zu meiner Rechten. Ich wende den Blick und entdecke vier Königinnen, die aus ihren getrennten Palästen herausgetreten sind und mich ansehen - in offensichtlicher Erwartung meiner Ehr- und Gehorsamsbezeugung. Und das zu Recht, denn jede dieser Frauen ist Königin.

Ich studiere ihre Züge - halb Fleisch, halb Haut und Knorpel, vom Siechtum verschnörkeltes Pergament, ziselierte Körper. Dann schiebe ich die Lumpen beiseite und inspiziere die Schuhe der Macht; ich genieße diese mühselige Verwandlung in ein Objet d'art, gebrauchte Gegenstände, verweste und wuchtige Wappen, leise körperliche Demenz. Der Himmel ist der Abstellraum eines Trödlers. Ich forsche, ob sich hier, in diesen Gesichtern, Dein Gesicht verbirgt. Ich könnte Deine Knochen wiedererkennen: es ist nutzlos, daß Du Dich mit Wunden maskierst, Liebe. Während ich vor ihnen kniee, beugen sich die Königinnen zu mir herab; vorsichtig prüfe ich den unterschiedlichen Modergeruch ihrer Körper - kostbare Wohlgerüche vergetäuschter Oriente. Du kannst Dich als Leichnam verkleiden, kannst alle Deine Finger verlieren - den Ringfinger verlierst Du nie. Die aussätzigen Königinnen lächeln mir zu, ja sie lächeln immer. Im Bewußtsein meiner Nichtigkeit wage ich nicht, das Wort an sie zu richten. Soll ich sie nach Dir fragen? Die Lepra ist eine ganze Enzyklopädie von Informationen, aber wer nicht leprakrank ist, kann sie nicht aufblättern; ja, das ist das passende Wort. Du hast mich nicht getäuscht; hattest Du gehofft, die Faszination Deiner Königswürde ließe keinen Widerstand zu? Glaubtest Du, ich würde meine Hand in Deinen Stumpf legen, um meine glatte Haut durch Deine sublime Zerstörung adeln zu lassen? Diese Edeldamen sind nichts weiter als fleißige Lehrmädchen des Nichts, während Du über das Nichts regierst. Ich werde mich also verabschieden. Die Königinnen haben begriffen, und ich verstehe, daß ein uralter geheimer Schmerz ihre kaum zusammengehaltenen Körper schüttelt. Sie wollen Liebe. Sie warten auf den Bräutigam; seit Jahrhunderten zerfressen die Motten den Glanz eines Hochzeitskleids. Ich gehe zum Ausgang zurück; ihre Würde verbietet den Königinnen jede Geste, um mich zurückzuhalten; sie würden mir ihre Königreiche, die Macht und einen nichtmenschlichen Prunk anbieten. Ich verneige mich nochmals und gehe hinaus. Ich vernehme ein Ächzen: irgendwo bricht eine morsche Stufe zusammen.   - Giorgio Manganelli, Amore. Berlin 1982 (Wagenbach Quartheft 118, zuerst 1981)

 

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