Lektüre versunken, In die   Fast am Ende des Korridors blieb der Professor stehen. »Hier ist sein Zimmer«, sagte er und zeigte auf eine solide Mauer.

»Da können wir nicht durch!« rief Bruno.

Schweigend prüfte Sylvie sorgfältig, ob sich die Mauer irgendwo öffnen ließ. Dann lachte sie lustig. »Du nimmst uns auf den Arm, alter Freund!« sagte sie. »Hier ist keine Türe!«

»Das Zimmer hat auch keine Türe«, erklärte der Professor. »Wir müssen durchs Fenster klettern.«

Also gingen wir in den Garten und fanden bald schon das Fenster zu des Anderen Professors Zimmer. Es befand sich im Erdgeschoß, und seine Flügel waren einladend weit geöffnet: zuerst hob der Professor die beiden Kinder hinein, dann kletterten er und ich ihnen nach.

Der Andere Professor saß an einem Tisch, sein Kopf ruhte auf einem aufgeschlagenen Folianten: er hatte beide Arme um das Buch geschlungen und schnarchte laut. »So liest er normalerweise die ganz interessanten Bücher«, bemerkte der Professor, »und dann ist es manchmal sehr schwierig, seine Aufmerksamkeit zu erregen!«

Dies schien einer der schwierigen Fälle zu sein: der Professor riß ihn ein-, zweimal hoch und schüttelte ihn kräftig durch: doch sobald er losgelassen wurde, kehrte er wieder zu seinem Buch zurück, und tiefe Atemzüge bewiesen, daß die Lektüre immer noch höchstes Interesse fand.

»Wie verträumt er ist!« wunderte sich der Professor. »Er muß zu einem ganz besonders interessanten Abschnitt gekommen sein!« Und er ließ geradezu einen Hagelschlag von Knüffen auf des Anderen Professors Rücken niederprasseln und begleitete sie mit dem Schrei: »Hallo, Hallo!« Und dann wandte er sich an Bruno: »Ist es nicht ein Wunder, wie verträumt er ist?«

»Also, wenn der immer so schläft«, bemerkte Bruno, »na, dann muß er ja auch träumen

»Aber was sollen wir bloß tun?« Der Professor war ratlos. »Ihr seht ja selbst, er ist völlig In sein Buch vertieft!«

»Und wenn du das Buch zuklappst?« schlug Bruno vor.

»Das ist die Idee!« Der Professor war entzückt. »Natürlich, das muß einfach klappen!« Und er klappte das Buch so schnell zu, daß er des Anderen Professors Nase zwischen die Seiten einklemmte und heftig kniff.

Sofort war der Andere Professor auf den Beinen und brachte das Buch zur gegenüberliegenden Zimmerseite, wo er es an seinen Platz im Bücherregal zurückstellte. »Ich habe jetzt achtzehndreiviertel Stunden lang gelesen«, sagte er, »und nun halte ich eine Ruhepause von vierzehneinhalb Minuten. Ist die Vorlesung fertig?«  - Lewis Carroll, Sylvie & Bruno. München 1986 (Goldmann 8552, zuerst 1889)

Lektüre versunken, In die (2)

- Leone Frollo

 

Lektüre Versunkenheit

 

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