eichtfüßigkeit Er
hörte Bella sprechen - ihre Stimme schien von weither zu kommen. »Was wollen
Sie, wir leben nicht im Mittelalter«, sagte sie. »Wir leben doch im zwanzigsten
Jahrhundert. Es ist höchste Zeit, daß sich die Menschheit zivilisiert, Zamosc
ist weder Bilgoraj noch Tomaszow. Eine Frau hat den gleichen Anspruch darauf,
sich zu amüsieren, wie ein Mann. Wir nahmen uns, was wir bekommen konnten. War
das so schlimm? Sobald man verheiratet ist und schwanger wird, ist alles aus.
Man ist dann nicht mehr so leichtfüßig beim Tanzen.« -
Isaac Bashevis Singer, Unterwegs. In: I.B.S., Der
Kabbalist
vom East Broadway.
München 1978 (zuerst 1972)
Leichtfüßigkeit (2) Sie hieß Jeanne; gerufen wurde sie Nanou. Sie war klein und verhutzelt, der Kopf hing ihr vornüber, er wackelte ein wenig in seinem Strohhut, der wie ein Taufkäppchen unterm Kinn gebunden war. Von ihrer Kleidung sah man nur die grobe Wollschürze, die unter den Achseln saß; eine andere, längere Drogettschürze, buntfarbig verwaschen vom Regen eines halben Jahrhunderts, bedeckte mit ihren Falten den Rücken und diente ihr so, um den Hals geknotet, als Mantel. Plumpe Holzschuhe gaben ihr die rechte Standfestigkeit, wie das Brettchen der hölzernen Schäferinnen, mit denen die Kinder spielen, und ihr Beingehänge in groben tabakbraunen Strümpfen, die ihr kurzer Rock bis zur Wade freiließ, war so dünn, als wären es zwei Messingdrähte, auf denen sie immerfort tanzte.
Sie war leichtfüßig; man mußte sehen, wie sie der Herde nachlief, zwischen
ihrem Hund Matinal und ihrer Ziege Coquette. Diese beiden waren, nächst Theophile
und Balsamine, die einzigen Wesen, die sie auf Erden liebte; im gleichen Trab
und Trott mit ihnen, hüpfte sie über eingebildete Steine und setzte sich ins
Gras mit der Anmut eines kleinen Mädchens über achtzig, denn so alt war sie.
Man mußte sie bei ihren «Hupfern» überrascht haben; zwei schwarze Haubenschnüre
flatterten am Himmel, und schon hörte man die kleinen Holzschuhe jenseits des
Steinmäuer-chens wie zwei ungleiche Steine in die Wiese plumpsen; sie war nicht
in die Knie gegangen; einen Augenblick lang zitterte sie auf dem schwanken Stengel
ihrer Knöchel, dann stolperte sie wie aus Spaß und setzte im Zwei- oder Dreivierteltakt
zu einem Kontertanz an, bis sie schließlich wieder in die Gangart ihrer Tiere
verfiel. - Marcel Jouhandeau, Die Schäferin Nanou. In: M. J., Chaminadour. Reinbek bei Hamburg 1964
Leichtfüßigkeit (3)
Ein anderes Mal sah ich meinen Bruder über ein vereistes Schneefeld
gehen. Die obere Fläche des Schnees wird tagsüber von einer starken Sonne oft
geschmolzen; der Frost in der folgenden Nacht verharscht das Schneefeld mit
Eis; die folgende Sonne weicht mancherorts die Schicht mit dem Rauhreif zu einem
Glast. Der über das Schneefeld geht, wird achten, unbeschwert mit leichten Füßen
zu gehen; unter dem Glast ist die Eisschicht noch hart. Er wird darauf sehen,
nicht aus dem geordneten Ablauf der Bewegungen zu fallen, in den er mit dem
Anfang seines Gehens gestiegen ist. Wenn er aus dem Schritt kommt, zeitigt dies
sein Einbrechen; wie er angefangen hat zu gehen, so ist er gefangen, fortzugehen.
Hält er ein, so wird sein plötzliches Gewicht ihn durch die Decke stoßen; fällt
er in einen Lauf, so wird auch dann die Wucht des Schritts ihn durch die Eisschicht
treten lassen. Damit die Schwerkraft des Körpers an allen Stellen die gleiche
sei, wird er vor dem Gang all seine Lasten von sich tun. Die ersten Schritte
hinterlassen nur den platten Abdruck seines Schuhs im Reif. Er hat die Ordnung
der Bewegungen gefunden, die Ihn herausführt. Wenn er gerufen wird, darf er
nicht halten oder Antwort geben. Als ich ihn anrief, brach er ein. Als er den
linken Fuß herauszog, brach der rechte ein. Als er den rechten Fuß herauszog,
brach zusehends auch der linke ein. Als er in Lauf fiel, brach er beidseits
ein. Unter der Eisschicht ist der Schnee aus dichtem Staub. -
Peter Handke, Die Hornissen. Frankfurt am Main 1977
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