Leichenberührung  - Eine zweite Meldung bekamen wir aus Planting, acht Tage nach der ersten. Auch da ging es darum, daß sich irgend jemand nachts an einer Leiche in der Friedhofsleichenhalle zu schaffen gemacht hatte. Der Verstorbene, ein Docker namens Thicker, war seit längerer Zeit krank und für seine Familie zur Last geworden.
Farquart beobachtete Gregory aus den Augenwinkeln, der ungeduldig auf seinem Stuhl hin und her rutschte.
- Das Begräbnis sollte frühmorgens stattfinden. Als sich die Angehörigen in der Leichenhalle versammelt hatten, bemerkten sie, daß die Leiche auf dem Gesicht lag, das heißt, mit den Schultern nach oben; darüber hinaus waren-die Arme ausgebreitet, was den Eindruck hervorrief, als sei der Mann ... wieder zum Leben erwacht. Das heißt, der Meinung war jedenfalls die Familie. In der Nachbarschaft begannen Gerüchte über einen angeblichen Scheintod zu kursieren; man erzählte, Thicker sei vom Scheintod erwacht und habe sich so darüber erschrocken, im Sarg zu liegen, daß er gestorben sei - diesmal allerdings endgültig.
-  Das waren natürlich Märchen - fuhr Farquart fort. - Der Tod war ja durch den örtlichen Polizeiarzt zweifelsfrei festgestellt worden. Als jedoch der Klatsch in den umliegenden Orten nicht verstummen wollte, wurde man amt-licherseits darauf aufmerksam, daß  die Leute über das sogenannte »Verrücken der Leichen«, zumindest aber darüber, daß man sie nach Ablauf der Nacht in veränderter Lage fand, bereits seit geraumer Zeit sprachen.
- Seit »geraumer Zeit«, was heißt das? - fragte der Inspektor.
- Das kann man nicht feststellen. Die Gerüchte betrafen Shaltam und Dipper. Anfang Januar wurde die erste einigermaßen systematische Untersuchung durch die örtlichen Polizeikräfte vorgenommen, da man die Sache noch nicht allzu ernst nahm. Die Aussagen der örtlichen Bevölkerung waren teils übertrieben, teils widersprüchlich; die Ergebnisse der Untersuchung sind eigentlich wertlos. In Shaltam ging es um die Leiche von Samuel Filthey, der an einem Herzschlag gestorben war. Er soll sich in der Weihnachts-nacht »im Sarg herumgedreht haben«. Der Totengräber, der das behauptete, ist als notorischer Säufer bekannt, niemand konnte seine Worte bestätigen. In Dipper wiederum ging es um die Leiche einer geisteskranken Frau, die man morgens auf dem Boden der Leichenhalle neben ihrem Sarg fand. Man erzählt, ihre Stieftochter habe sie aus dem Sarg geworfen, nachdem sie sich nachts in die Leichenhalle geschlichen habe, und sie habe es aus Haß getan. In all diesem Klatsch und den Gerüchten kann sich natürlich kein Mensch zurechtfinden. Bestenfalls konnte man den Namen eines angeblichen Augenzeugen herausfinden, der wiederum auf jemand anderen verwies. 

-  Der Fall wäre sicherlich »ad acta« gelegt worden -, Farquart sprach jetzt schneller - wenn nicht am sechzehnten Januar die Leiche eines gewissen James Trayle aus der Leichenhalle in Treakhill verschwunden wäre. Diesen Fall bearbeitete Sergeant Peel, der durch unseren CIC dazu abkommandiert war. Die Leiche wurde zwischen zwölf Uhr nachts und fünf Uhr morgens aus der Leichenhalle entwendet, als nämlich der Beerdigungsunternehmer ihr Fehlen bemerkte. Der Verstorbene war ein Mann ... ich glaube, von etwa vierzig Jahren ...
-  Sind Sie nicht sicher? - fragte der Chefinspektor. Er saß mit gebeugtem Kopf da, als wollte er sich in der spiegelblank polierten Schreibtischplatte betrachten. Farquart räusperte sich.
- Ich bin sicher. Ich habe mich nur versprochen ... Also, er starb an einer Leuchtgasvergiftung. Es war ein Unglücksfall.
-  Autopsie? - der Chefinspektor zog die Augenbrauen hoch. Er beugte sich zur Seite und zog am Fensterhebel, der die Luftklappe öffnete. In die abgestandene, stickige Luft des Zimmers mischte sich eine feuchte Brise,
- Eine Autopsie wurde nicht vorgenommen, aber davon, daß es ein Unglücksfall war, haben wir uns eingehend überzeugt. Sechs Tage später, am 23. Januar, ereignete sich der zweite Fall, und zwar in Spittoon. Dort verschwand die Leiche des achtundzwanzigjährigen John Stevens, der einen Tag vorher einer tödlichen Vergiftung erlegen war, als er den Kessel einer Schnapsbrennerei reinigte. Der Tod trat gegen drei Uhr nachmittags ein, die Leiche wurde in die Leichenhalle abtransportiert, wo sie der Wärter zum letztenmal gegen neun Uhr abends gesehen hat. Am nächsten Morgen war sie nicht mehr da. Auch diese Sache bearbeitete Sergeant Peel, genau wie im ersten Fall ohne jedes Ergebnis. Da wir zu dieser Zeit die Möglichkeit einer Ver   zahnung dieser beiden Fälle mit den vorangegangenen noch nicht ins Auge gefaßt hatten ...
- Vielleicht könnten Sie zunächst einmal auf einen Kommentar verzichten, nicht wahr? Das würde uns die Bestandsaufnahme der Tatsachen erleichtern -, bemerkte der Chefinspektor. Er lächelte Farquart freundlich zu. Seine ausgetrocknete, magere Hand legte er auf den Schreibtisch. Gregory   heftete   seinen   Blick   unwillkürlich   auf   diese Greisenhand, auf der sich keine Adern abzeichneten und die völlig blutleer war.

- Der dritte Fall ereignete sich in Lovering. Das ist schon im Bezirk von Groß-London - fuhr Farquart mit matter Stimme fort, so, als habe er die Lust verloren, seinen allzu lang geratenen Bericht fortzusetzen, - Die Medizinische Fakultät hat dort ihre neuen Prosektonen. Aus ihnen verschwand die Leiche des fünfzigjährigen Stewart Aloney, der an einer langwierigen Tropenkrankheit gestorben war, die er sich als Seemann während einer Reise nach Bangkok zugezogen hatte.Dieser Fall ereignete sich neun  Tage nach dem zweiten Verschwinden, am zweiten Februar, das heißt, in der Nacht vom zweiten auf den dritten. Dieses Mal übernahm der Yard die Untersuchung. Leutnant Gregory leitete sie, der danach noch eine andere Sache übernahm: das Verschwinden einer Leiche aus der Leichenhalle des Vorortfriedhofs von Bromley. Das passierte am zwölften Februar; es ging um die Leiche einer Frau, die nach einer Krebsoperation   gestorben war.    - Stanislaw Lem, Die Untersuchung. Frankfurt am Main 1978

Leiche Berührung


Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 

Unterbegriffe

 


VB

 

Synonyme