Lehre   Oft verbrachten wir (meine Mutter, die beiden Diplomaten und ich) lange Abende in einem gespenstisch inmitten von Park und Wald aufragenden Turm und spielten Karten. Denn obwohl ich erst dreizehn Jahre alt war, hatte Baldi mir — aus Angst vor dem ,Strohmann' — schon das Whist und auch das Falschspielen beigebracht. Diese Seancen dauerten meist über Mitternacht hinaus.

Baldi war Jongleur, Zauberkünstler, Taschenspieler und Akrobat. In der Zeit, wo dieser cagliostrohafte Italiener bei uns auftauchte, kam ich eben aus Heldenbrucks vernünftelnder Realschule. Um so berauschender überfiel mich nun die neue Magie, und mit selig-gläubigem Staunen nahm ich alles hin, was Baldi mir an Wundern zu bieten hatte. Späterhin hat er mich in die Technik seiner Tricks eingeweiht; aber dieses Aufgeklärtwerden nahm dem Geheimnis nichts von seiner Bannkraft, und niemals verwischte sich mir der Verzauberungsrausch jenes ersten Abends, da Baldi sich die Zigarette seelenruhig am Nagel seines kleinen Fingers angezündet und darauf (zu meinem Entsetzen und zur Belustigung der übrigen) aus meiner Nase genausoviel Rubel hervor-gehokuspokust hatte, wie er zur Deckung seines Spielverlustes brauchte — eine Finanzoperation, die er mit einer kühlen Erklärung begleitete: 'glücklicherweise ist dieser Knabe eine unerschöpfliche Goldmine.'

Wenn er abends mit meiner Mutter und mir allein war, so erfand er immer etwas Neues, eine Überraschung oder einen Schabernack. Er äffte alle unsere Bekannten nach, schnitt Fratzen, eskamotierte jede Ähnlichkeit mit sich selbst, imitierte alle Stimmen, Tierlaute und Instrumente, exzellierte in unglaublichen Geräuschen, sang und begleiete sich auf der einsaitigen Gusla, tanzte, machte Luftsprünge, ging auf den Händen, sprang über Tische und Stühle oder zog sich die Schuhe aus, um als japanischer Fußjongleur Ofenschirme und Salontisch eben auf der Zehenspitze tanzen zu lassen. Mit den Händen jonglierte er noch besser. Aus einem zerknüllten Stück Papier ließ er weiße Schmetterlinge hervorflattern, die er mit Fächerschlägen in der Schwebe erhielt und die ich mit meinem Atem pustend verfolgte. Bei diesem Magier verloren alle Dinge Gewicht und Wirklichkeit, ja sogar Gegenwärtigkeit, und schienen einen neuen, unerwarteten, phantastischen, jedem Nutzwert entrückten Sinn zu gewinnen: ,Es gibt kaum etwas, womit man nicht jonglieren könnte', sagte er.  - André Gide, Die Verliese des Vatikan. München 1975 (dtv 1106, zuerst 1914)

 

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