ebenslauf,
weiblicher
Mary Vierlinger hatte nie Gelegenheit zu heiraten,
d.h., die Eltern behielten sie im Hause. In ihrer Spitze-Schärfe-Zeit-der-Blüte
liebte Mary hündisch eine bestimmte weibliche Person. Diese entwickelte sich
später zu einer dicken Person. Mary änderte ihr Testament wieder. Sie wollte
dieser Person später nie mehr begegnen. Sie blieb nach der unglücklich ausgegangenen
Liebe zu jener bestimmten Person in ihrem unglücklichen Zustand bei den Eltern
(als sei die Liebe als Ausweg aus der väterlich-mütterlichen Manufaktur mit
diesem ersten Versuch widerlegt). Nachdem Mary ihr 30. Lebensjahr überschritten
hatte, waren die Eltern bereits zu alt, als daß Mary sie jetzt noch hätte verlassen
dürfen. Sie umsorgte sie; sorgsam kontrolliert im Tageslauf durch sich selbst
und die Eltern, also 6 Augen: sie rechnete, wenn sie das Haus verließ, über
die verbrauchte Zeit sowie über das verbrauchte Geld ab, glaubte auch nicht,
daß ein momentanes Entweichen aus diesem Herrschaftsbereich ihr Glück bringen
würde. Mit 50 Jahren konnte sie sich ein anderes Leben als dieses, das dem Rhythmus
der Eltern folgte, nicht vorstellen. Nach dem Tode der Mutter, 1939, die ihrem
Mann um ein Jahr nachstarb, war Mary Vierlinger, eine echte Packer, zum ersten
Mal in ihrem Leben frei. Die Eltern waren ordnungsgemäß der Erde übergeben.
Mary kaufte sofort einen Chevrolet. Sie unternahm eine Italienreise bis Bari.
Der rasch ausbrechende 2. Weltkrieg unterband wieder die Lebensäußerungen Marys.
Sie war während des Krieges aus Standesrücksichten mit karitativen Unternehmungen
befaßt. Schwester Adrienne war als Vorbild da. Im März 1943 erhielt Mary eine
Auszeichnung. Bis zuletzt konnte sie nicht daran glauben, daß die Engländer
die Stadt der ehemals Packerschen und der Vierlingerschen Betriebe bombardieren
würden. Als das dann doch geschah, kämpfte sie zäh für die Versorgung der zum
Teil beschädigten Krankenanstalt, der sie zugeteilt war. Sie hielt Jahre hindurch
einen gewissen Alkoholspiegel in ihrem Körper aufrecht. Eine langausgezogene
Speisetafel war für Gäste, die nicht kamen, ständig gedeckt. Zwei alte Lehnstühle
waren vorhanden, die Mary 1936 auf den Dachboden schaffen ließ. Wegen der Luftschutzbestimmungen
mußten diese Gegenstände 1939 in den Keller transportiert werden. Erhalten waren
auch Empire-Garnituren für fünf Räume. Das Schlafzimmer ihrer Eltern ließ Mary
1944 aus Luftschutzgründen zerhacken. 1950 war Mary 63Jährig. Sie selbst aß
nicht viel, trank auch nicht mehr viel, verzichtete auf den Ankauf eines Fahrzeugs.
Irn wesentlichen hütete sie Erbschätze.
Wenige Jahre später erzwang eine Venenentzündung die Amputation eines Oberschenkels. Niemand hätte mit einem Überleben Marys gerechnet. Zusammengepreßt auf schmaler werdendem Raum saß unverbrauchte Vitalität, nie in Anspruch genommen. Nun griff zugunsten der geretteten Mary die Familie, d.h. in erster Linie die gute Schwester Adrienne, die Vermögenssubstanz der Vierlingerschen Erbmasse an; sie ließ sich Generalvollmacht geben und wollte der Schwester Erleichterung bringen. Ein Korbstuhl für Mary, fahrbar, wurde konstruiert. Mary zeigte erhebliche Freßsucht. Besucher sollten ihr zugeführt werden, um sie abzulenken.
Ohne daß Marys Lustsuche in irgendeinem Grad befriedigt worden wäre,
erlitt
sie, nach sechs in ihrem Korb verbrachten Jahren, eine Serie von
Schlaganfällen.
Sie versuchte noch zu sprechen. Hinter den fast geschlossenen Lidern
lauerte
ein jetzt nicht mehr gebändigter Lebenswille. Es wurde der linke, d.h.
noch
verbliebene Unterschenkel wegen einer nekrotischen Stelle abgenommen.
Mary überstand den Eingriff gut. Zwei Jahre nach ihrem letzten
Schlaganfall
starb sie. - (klu)
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