eben,
kimmerisches
Eine verständliche, doch für uns merkwürdige Eigenart besteht darin, daß sie
keinerlei Zeitrechnung haben, weder nach Stunden
noch nach Jahren; noch gibt es in jener Nacht etwas, das sich Jahreszeit nennen
ließe. Die Kimmerier schlafen nicht, wie
wir, alle zur selben Zeit, und essen auch nicht alle um dieselbe Stunde, sondern
irgendwie, irgendwo und irgendwann. Was wir als Verbrechen betrachten, etwa
Mord und Totschlag, kommt nicht selten vor, wird aber als belanglos betrachtet
und in keiner Weise bestraft; es scheint sogar, als gäbe es in jener Region
keinerlei Gerichtsbarkeit. Was die Gründe für Mord und Totschlag sind, ist schwer
zu verstehen, denn die Leidenschaften sind bei ihnen erkaltet und kärglich.
Sie wußten nicht recht, was sie antworten sollten, als stellten wir Fragen über
Dinge, die zuwenig Bedeutung haben; sie sprachen von übermäßiger Nähe,
von hartnäckigen Geräuschen und von übermäßig fremden Sprachen.
Aus der letzten Antwort scheint man schließen zu können, daß es übermäßig
fremde Sprachen gibt, gegen die nur der Tod hilft. Worin dieses Übermaß besteht,
konnten sie nicht erklären, aber nicht weil es schwer gewesen wäre, sondern
eher zu selbstverständlich. Wir erzählten ihnen vom Tag, von der Sonne, von
den wechselnden Jahreszeiten, aber sie zeigten nie ein wirkliches tiefer gehendes
Interesse, höchstens eine linkische Höflichkeit oder wohl auch Langeweile. Sie
wollen jene ihre Welt nicht verlassen, zum Teil, weil ihnen anderswo das Leben
schwerfiele, zum Teil, weil sie Menschen der Nacht sind und sich keine andere
Vorstellung von sich selbst machen können. Auf die Frage, ob sie ihr Land lieben,
antworteten sie, dort seien sie geboren, und sie glaubten nicht, daß ein anderes
Leben für sie einen Sinn habe; aber als einer von uns vorschlug, wir würden
in ihr Land kommen und dort leben, zeigten sie sich gleichgültig, vielleicht
unter dem Schutz des Bewußtseins, daß niemand außer ihnen selbst in der Nacht
überleben kann. - Giorgio Manganelli, Kometinnen
und andere Abschweifungen. Berlin 1997
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