Leben, geregeltes   Als junger Mann hatte Michel verschiedene Romane gelesen, die sich um das Thema des Absurden, der existentiellen Verzweiflung, der beständigen Leere der Tage drehten; diese extremistische Literatur hatte ihn nur teilweise überzeugt. Zu je­ner Zeit hatte er sich oft mit Bruno getroffen. Bruno träumte davon, Schriftsteller zu werden; er schrieb zahlreiche Seiten voll und onanierte viel; er hatte ihm Beckett zu lesen gegeben. Beckett war vermutlich das, was man einen großen Schriftsteller nennt: Und doch war es Michel nicht gelungen, auch nur eines seiner Bücher zu Ende zu lesen. Das war gegen Ende der 70er Jahre gewesen; er und Bruno waren zwanzig und fühlten sich schon alt. Und das sollte so weitergehen: Sie sollten sich immer älter fühlen und sich dessen schämen. Ihre Epoche würde bald eine noch nie erfolgte Wandlung vollziehen: Das tragische Gefühl des Todes sollte in der allgemeineren, etwas verschwom­menen Empfindung des Alterns aufgelöst werden. Zwanzig Jahre später hatte Bruno noch immer nicht wirklich an den Tod gedacht; und er begann zu ahnen, daß er nie daran denken werde. Er würde bis zum Schluß den Wunsch haben, zu leben, bis zum Schluß im Leben stehen, bis zum Schluß die Zwischenfälle und Mißgeschicke des konkreten Lebens und des körperlichen Verfalls bekämpfen. Bis zum letzten Augenblick würde er um eine kleine Zugabe bitten, um eine kleine Verlängerung des Daseins. Bis zum letzten Augenblick würde er insbesondere nach einem allerletzten Höhepunkt der Lust suchen, nach einem kleinen zusätzlichen sexuellen Kitzel. Eine gut ausgeführte Fellatio blieb, so nutzlos sie auch auf lange Sicht war, ein wahres Vergnügen; und das zu leugnen, dachte Michel, während er in seinem Katalog die Seiten mit der Damenunterwäsche (Sinnlich! Strapshalter) durchblätterte, wäre unvernünftig gewesen.

Er selbst onanierte selten; die Phantasmen, die ihn als jungen Forscher vor dem Minitel oder auch beim Anblick authentischer junger Frauen (zumeist Vertreterinnen der pharmazeutischen Industrie) von Zeit zu Zeit heimgesucht hatten, waren allmählich verschwunden. Er regelte das Nachlassen seiner Potenz mittlerweile durch harmloses, friedliches Wichsen, wofür sich der 3-Suisses-Katalog, gelegentlich ergänzt durch eine erotische CD-ROM für 79 Franc, als völlig ausreichende Vorlage erwies. Bruno dagegen, das wußte er, vergeudete sein reifes Mannesalter mit der Suche nach zweifelhaften Lolitas mit üppigen Brüsten, knackigem Hintern und einladendem Mund; Gott sei dank war Bruno verbeamtet. Aber er lebte nicht in einer absurden Welt: Er lebte in einer melodramatischen Welt, die mit Superweibern und Fettklößen, mit geilen Typen und Saftsäcken bevölkert war; das war die Welt, in der Bruno lebte. Michel dagegen lebte in einer genau geregelten, wenn auch, historisch gesehen, anfälligen Welt, die jedoch durch gewisse kommerzielle Zeremonien einen gleichmäßigen Rhythmus bekam: das Tennisturnier in Roland Garros, Weihnachten, Silvester, den zweimal im Jahr eintreffenden 3-Suisses-Katalog. Wenn er homosexuell gewesen wäre, hätte er an der Anti-Aids-Kampagne des ersten Programms oder an der Gay Pride-Parade teilnehmen können. Wenn er Erotomane gewesen wäre, hätte er sich für die Erotikmesse begeistert. Wenn er Sportfan gewesen wäre, hätte er in dieser Minute die Pyrenäen-Etappe der Tour de France verfolgt. Als Verbraucher ohne besondere Merkmale begrüßte er dennoch erfreut die Wiederkehr der italienischen Woche im Monoprix seines Viertels. All das war gut organisiert, auf menschliche Weise organisiert; in all dem konnte man sein Glück finden; wenn er es hätte besser machen wollen, hätte er nicht gewußt, wie er es anfangen sollte. - Michel Houellebecq, Elementarteilchen. München 2001

Leben Regelmäßigkeit

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