Leben, geistiges   Seit Jahren führte Michel ein rein geistiges Dasein. Die Gefühle, die das Leben der Menschen bestimmen, waren nicht Gegenstand seiner Betrachtung; er kannte sie kaum. Das Leben in der heutigen Zeit konnte mit vollkommener Präzision geregelt werden; die Kassiererinnen des Supermarkts erwiderten seinen kurzen Gruß. Es hatte in den letzten zehn Jahren, seit er dort wohnte, in dem Wohnblock viel Hin und Her gegeben. Manchmal bildete sich ein Paar. Dann beobachtete er den Einzug; im Treppenhaus transportierten Freunde Kisten und Lampen. Sie waren jung und lachten manchmal. Oft (aber nicht immer) zogen die beiden Partner bei der Trennung, die darauf folgte, zur gleichen Zeit wieder aus. Dann stand eine Wohnung leer. Was sollte man daraus schließen? Wie ließen sich all diese Verhaltensweisen deuten? Es war schwer zu sagen.

Er selbst hatte nur den Wunsch zu l[i]eben, zumindest verlangte er sonst nichts. Nichts Genaues. Das Leben, dachte Michel, müßte eigentlich etwas Einfaches sein; etwas, das man wie eine Aneinanderreihung endlos wiederholter kleiner Rituale erleben kann. Rituale, die eventuell etwas albern sein durften, aber an die man trotzdem glauben konnte. Ein Leben ohne große Erwartungen und ohne Dramen. Aber das Leben der Menschen war nicht so angelegt. Manchmal ging er nach draußen und beobachtete die Jugendlichen und die Wohnblocks. Eines war sicher: Niemand wußte mehr, wie man leben sollte. Doch vielleicht übertrieb er etwas: Manche schienen sich einer Sache verschrieben zu haben, waren ganz von ihr erfüllt, offensichtlich erhielt ihr Leben dadurch einen Sinn. So setzten sich etwa die militanten Mitglieder von Act Up dafür ein, daß gewisse Werbespots im Fernsehen gesendet wurden, die manche als Pornographie bezeichneten, weil sie verschiedene homosexuelle Praktiken in Großaufnahme zeigten. Aber ganz allgemein gesehen, schienen sie ein angenehmes, aktives Leben zu führen, das von den unterschiedlichsten Ereignissen begleitet war. Sie hatten zahlreiche Partner, vergnügten sich mit Arsch-ficks in dark rooms. Manchmal verrutschten oder platzten die Kondome. Dann starben sie an Aids; aber selbst ihr Tod hatte noch einen kämpferischen Sinn und eine gewisse Würde. Ganz allgemein gesehen gab das Fernsehen und besonders das erste Programm, TF1, eine ständige Lektion in Sachen Würde. Als Michel noch jung war, hatte er geglaubt, das Leiden verleihe dem Menschen eine zusätzliche Würde. Jetzt mußte er einsehen, daß er sich geirrt hatte. Nicht das Leiden, sondern das Fernsehen verlieh dem Menschen eine zusätzliche Würde.

Trotz der wiederholten reinen Freuden, die ihm das Fernsehen bereitete, hielt er es für richtig, ab und zu aus dem Haus zu gehen. Außerdem mußte er ja Einkäufe machen. Ohne feste Bezugspunkte verzettelt sich der Mensch, dann ist nichts mehr mit ihm anzufangen.  - Michel Houellebecq, Elementarteilchen. München 2001

Leben Geist

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