autstärke
Die Tante X ist fast völlig taub. In ihrer irgendwo bereits erwähnten
Ansprache brachte sie mir gegenüber unter anderem auch ihre Befriedigung über
die Taufe der Minor zum Ausdruck, aus der sie Schlüsse auf den Zustand meines
religiösen Gewissens und meiner Seele zu ziehen schien. Und da blieb mir, dem
(wie bereits beiläufig geäußert) an dieser Taufe keinerlei Verdienst zukam,
um der Ehrlichkeit, der Bescheidenheit, meinetwegen auch der Polemik willen
oder einfach nur, um etwas zu sagen, da blieb mir also nichts anderes übrig,
als sie zu enttäuschen, so daß ich einwarf: «O nein, ich bin Eurer Mutmaßungen
nicht würdig» (ich rede sie mit «Ihr» an). Nun, gemurmelt beziehungsweise mit
normaler Stimme gesprochen, mochte der Satz durchgehen; aber als ich ihn wiederholen
und dann auch noch brüllen mußte, du lieber Himmel, was er da plötzlich wurde
- und wie falsch! Mag sein, daß er für mich so klang, weil er aufgeblasen war,
schlecht konstruiert oder was weiß ich, jedenfalls aus ästhetischen Gründen:
Die laute 1 Stimme war der Prüfstein, das Reagens, das die Affektiertheit,
die Anmaßung, die Selbstgefälligkeit aufdeckte und anprangerte. Nun ja, wie
soll man sich auch jemanden vorstellen, der aus vollem Halse schreit:
«Ich bin Eurer Mutmaßungen nicht würdig!». wie also einen solchen Satz geschrien?
Aber das ist der Punkt: Gibt es überhaupt Sätze, die das Schreien aushaken,
das heißt, es ertragen, geschrien zu werden? Die sozusagen ohne Scham geschrien
werden können, ohne in irgendeiner verborgenen Faser
Alarm auszulösen, sondern uns unaufgeregt und im Einklang mit uns selbst lassen?
Die uns nicht dazu verleiten, noch ehe unser Bewußtsein aktiv geworden ist,
hinzuzufügen: Oh, was für eine Lüge! Aber reden wir noch deutlicher: Gibt es
Sätze, die überhaupt das Gesagtwerden ertragen? Ich glaube nicht, wenn wir nicht
die höchste Sorgfalt darauf verwenden, sie in einer Weise zu sagen, daß wir
sie fast nicht hören, uns ihrer fast nicht bewußt werden, wenn wir sie nicht
herausfließen lassen, um sie gleich darauf zu vergessen. Und wenn das schon
für das gesprochene Wort gilt, wie hart muß dann erst die Bedingung für das
geschriebene sein? (Aber ich reite auf allzu Bekanntem herum.) Nehmen wir nur
den einfachsten aller Sätze, «Ich bin», und schreien wir ihn oder flüstern wir
ihn kaum hörbar, versuchen wir dabei aber, ihn uns ganz bewußtzumachen:
Welche Demütigung, welche Schande! Allerdings steckt hierin auch ein wenig
Bösartigkeit, denn der einfachste aller Sätze ist auch der kompromittierendste.
- (land3)
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