auscher  Jacques fand sein eigenes Benehmen schändlich. Es war niederträchtig, wie ein Spion, der ein Heiligtum verletzt, in der Dunkelheit zu bleiben, während die Frau dem Priester beichtete.

Aber dann hätte er gleich gehen müssen, als der Priester in der Soutane zusammen mit ihr gekommen war, oder er hätte zumindest ein Geräusch verursachen müssen, damit sie die Gegenwart eines Dritten bemerkten. Jetzt war es zu spät, und er konnte die Situation, in die er durch seine Indiskretion geraten war, nur noch verschlimmern.

Er war am Ende dieses heißen Tages müßig einhergeschlendert und hatte wie eine Kellerassel nach einem kühlen Ort gesucht, als ihn eine Laune ankam, die wenig zu seinen sonstigen Launen stimmte: Er war in die alte Kirche eingetreten und hatte sich in einen dunklen Winkel hinter dem Beichtstuhl gesetzt, um seinen Träumen nachzuhängen und die Fensterrose zu betrachten, die langsam erlosch.

Nach wenigen Minuten wurde er, ohne recht zu wissen wie und warum, der höchst unfreiwillige Zeuge einer Beichte.

Er verstand zwar zunächst die Worte nicht und hörte nur flüsternde Stimmen. Aber dann schien das Gespräch lebhaft zu werden. Einige Silben lösten sich hier und dort, tauchten aus dem trüben Fluß des Beichtgemurmeis auf, und der junge Mann, der, erstaunlich genug, das Gegenteil eines Flegels war, fürchtete allen Ernstes, Bekenntnisse zu vernehmen, die keinesfalls für ihn bestimmt waren.

Plötzlich wurde diese Befürchtung Wirklichkeit. Ein heftiger Wirbel schien zu entstehen. Das vorher unbewegliche Wasser begann zu schäumen, es teilte sich, als wolle es ein Ungeheuer gebären, und betäubt vor Entsetzen vernahm der Zuhörer die mit Ungeduld hervorgestoßenen Worte:

»Ich sage Ihnen, Hochwürden, ich habe Gift in seinen Kräutertee getan!«

Dann nichts mehr. Die Frau, deren Gesicht nicht zu sehen war, erhob sich von dem Betschemel und verschwand ohne ein Wort im Dickicht der Schatten.

Der Priester bewegte sich ebensowenig wie ein Toter, und lange Minuten verrannen, bis er die Tür des Beichtstuhls öffnete und davonging, mit schleppenden Schritten, wie von einem schweren Schlag getroffen.

Jacques stand erst auf, als der Küster eindringlich mit den Schlüsseln rasselte und die Aufforderung, die Kirche zu verlassen, längst das Schiff durchhallt hatte, so benommen war er von diesen Worten, die wie ein Schrei in ihm widertönten.

Er hatte die Stimme seiner Mutter erkannt! Es gab keinen Zweifel. Er hatte sogar ihre Gestalt erkannt, als der Schatten der Frau sich zwei Schritte vor ihm erhob. Aber wie war das möglich! Alles stürzte zusammen, alles ließ ihn im Stich, alles war nur ein schrecklicher Scherz!

Er lebte allein mit seiner Mutter, die fast niemanden sah und nur ausging, um die Messe zu besuchen. Er verehrte sie und bewunderte ihre Rechtschaffenheit und Güte.

So weit er sich zurückerinnern konnte, gab es in der Vergangenheit nichts Undurchsichtiges, nichts Unrechtes, keine Abweichung vom geraden Weg und keine einzige Verirrung. Ein schöner weißer Weg unter einem bleichen Himmel, so weit das Auge reichte. Denn das Leben der armen Frau war sehr traurig gewesen.

Seit dem Tode ihres Mannes, der in Champigny gefallen war und an den sich der junge Mann kaum erinnerte, hatte sie stets Trauer getragen. Sie widmete sich ausschließlich der Erziehung ihres Sohnes, den sie nicht einmal für einen Tag verließ. Sie hatte ihn niemals zur Schule schicken wollen, hatte ihn vor Berührungen mit der Außenwelt zu bewahren gesucht und selbst seinen Unterricht übernommen; sie hatte seinen Geist mit dem ihren genährt. Er war durch diese Lebensweise sensibel und unruhig geworden, und seine empfindlichen Nerven setzten ihn lächerlichen Schmerzen aus - vielleicht auch wirklichen Gefahren.

Als er heranwuchs, machten die üblichen Jungenstreiche, die sie nicht verhindern konnte, sie zwar noch ein wenig trauriger, aber sie blieb sanft. Keine Szenen, keine stummen Vorwürfe. Wie so viele andere akzeptierte sie das Unvermeidliche.

Alle sprachen mit Achtung von ihr, und er als einziger, ihr geliebter Sohn, mußte sie heute verachten - auf den Knien, mit Tränen in den Augen, wie die Engel Gott verachten würden, wenn er seine Versprechen nicht hielte...! Es war zum Verrücktwerden, er hätte es auf der Straße laut herausschreien mögen. Seine Mutter! eine Giftmischerin! Es war wider alle Vernunft, es war millionenmal absurd, es war vollkommen unmöglich, und dennoch war es sicher. Hatte sie es nicht eben selbst bekannt? Er hätte sich umbringen können.

Aber wen hatte sie vergiftet? Lieber Gott! Er kannte niemanden in seiner Umgebung, der an Gift gestorben war. Es konnte nicht sein Vater sein, denn der hatte eine Kugel in den Leib bekommen. Auch ihn selbst hatte sie nicht zu töten versucht. Er war niemals krank gewesen, hatte niemals einen Kräutertee gebraucht und wußte, daß sie ihn liebte. Als er sich das erste Mal abends verspätet hatte, und wahrhaftig ohne sein Verschulden, war sie selbst krank vor Sorge gewesen.

Handelte es sich um etwas, das vor seiner Geburt geschehen war? Sein Vater hatte sie um ihrer Schönheit willen geheiratet, als sie kaum zwanzig Jahre alt war. War dieser Heirat ein Ereignis vorausgegangen, das mit einem Verbrechen verbunden war?

Nein, gewiß nicht. Diese klare Vergangenheit war ihm wohlbekannt, hundertmal war ihm alles erzählt worden, und die Zeugnisse waren völlig zuverlässig. Warum also dieses furchtbare Bekenntnis? Und warum, warum mußte gerade er es hören?

Entsetzt und verzweifelt kehrte er nach Hause zurück.

Seine Mutter kam sofort herbei und umarmte ihn.

»Wie spät du kommst, mein liebes Kind! Und wie blaß siehst du aus! Bist du krank?«

»Nein«, antwortete er, »ich bin nicht krank, aber die Hitze ermüdet mich, und ich glaube, ich kann nichts essen. Und du, Mama, fühlst du dich wohl? Du bist sicher ausgegangen, um dir Kühlung zu verschaffen? Mir war, als hätte ich dich von weitem am Quai gesehen.«

»Ich bin tatsächlich ausgegangen, aber auf dem Quai kannst du mich nicht gesehen haben. Ich bin beichten gewesen, was du, glaube ich, schon lange nicht mehr getan hast, du böser Junge.«

Jacques staunte, daß er nicht erstickte, nicht wie gefällt umstürzte, wie es in den Romanen geschah, die er gelesen hatte.

Also stimmte es, sie war beichten gegangen! Er war nicht in der Kirche eingeschlafen, diese fürchterliche Katastrophe war kein Alptraum, wie er es eine Minute lang gehofft hatte.

Er fiel nicht, aber er wurde noch bleicher, und seine Mutter erschrak.

»Was hast du nur, mein kleiner Jacques?« fragte sie. »Du leidest, du verbirgst deiner Mutter etwas. Du solltest mehr Vertrauen zu ihr haben, denn sie liebt nur dich und hat nur dich . . . Wie du mich ansiehst! Mein geliebter Schatz . . . Aber was ist mit dir? Du machst mir Angst!«

Sie nahm ihn liebevoll in die Arme. »Hör zu, du großes Kind. Ich bin nicht neugierig, das weißt du, und ich will nicht den Richter dir gegenüber spielen. Sag nichts, wenn du nichts sagen willst, aber laß dich umsorgen. Du gehst jetzt sofort ins Bett. Inzwischen bereite ich dir einen leichten kleinen Imbiß und bringe ihn dir selbst, ja? Und wenn du heute nacht fieberst, mache ich dir einen Kräutertee . . .«

Diesmal stürzte Jacques zu Boden.

»Endlich«, seufzte sie, ein wenig müde, und streckte die Hand zur Klingel aus.

Jacques hatte ein Aneurysma im letzten Stadium, und seine Mutter hatte einen Liebhaber, der nicht Stiefvater werden wollte. - Léon Bloy, Der Kräutertee. In: Das Spiegelkabinett. Englische und französische Erzählungen des Fin de Siècle. Hg. Wolfgang Pehnt. München 1969 (dtv 567, zuerst 1966)

Lauscher (2)  Er blickte nach dem schmalen Mauerstreifen zwischen den zwei hohen Fenstern, wo auf einem kleinen Büchersims ein Kochbuch, der 'World Almanac' und ein rotes Wörterbuch standen. Darüber hing eine Totenmaske, die mir schon beim Eintreten aufgefallen war. Ich hatte sie für eine Arbeit Fechters gehalten. Sie war nicht weiß, sondern grau, aus Zement offenbar. Dieses Grau verlieh der Maske einen modrigen, aber eben dadurch beinahe lebendigen Ausdruck, man konnte glauben, in das Gesicht einer echten, vom Tode grau gefärbten Leiche zu blicken. Hinzu kam, daß der Abguß nicht nur das Gesicht, sondern auch den halben Schädel, die Ohren und ein Stück des Halses zeigte. Kein Sockel, keine Platte war als Abschluß angebracht, und das erhöhte den Eindruck, daß ein Mensch mit geschlossenen Augen sein Haupt aus der Wand hervorneigte und aufmerksam in den Raum lauschte. - Wieland Herzfelde, Immergrün. Merkwürdige Erlebnisse und Erfahrungen eines fröhlichen Waisenknaben. Berlin 1949

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