Läufer  Die Schlange sagt zu dem Kapitän: »Du wirst den Läufer in diesem Hafen an Land setzen und wirst ihm sagen, daß er auf den Gipfel eines kleinen Berges steigen muß, daß dort ein kleines Haus steht und drinnen eine alte, alte Frau ist und ein Schwert, ein Feuerstein und eine Zunderbüchse. Diese drei Dinge soll er, eines nach dem anderen, an Bord bringen, jedes in einem extra Lauf.«

Unser Läufer rennt weg und kommt zu dem Haus. Er sieht die Alte mit den roten Augen. Sie spinnt an der Schwelle der Tür. Er bittet sie um einen Tropfen Wasser - so lang sei er schon gelaufen, ohne Wasser zu finden -, ob sie ihm einen kleinen Tropfen geben wolle?

Die alte Frau sagt »nein« zu ihm. Er bittet sie wieder und sagt ihr, daß er die Straßen in diesem Land nicht kenne, er wisse auch nicht, wohin er gehe. Indessen schaut die Alte ohne Unterlaß auf den Kaminsims, und sie sagt zu ihm: »Also, ich werde dir Wasser geben.«

Während sie zum irdenen Krug ging, nimmt unser Läufer das Schwert vom Kaminsims und läuft, so schnell ihn die Beine tragen, fort- wie der Blitz; aber die alte Frau ist hinter ihm her. Gerade in dem Augenblick, in dem er im Begriff ist, in das Schiff  zu springen, holt ihn die Alte ein und schnappt einen Zipfel seines Rockes und mit ihm ein Stück Haut von seinem Rücken. Der Kapitän geht zur Schlange und sagt zu ihr: »Das Schwert haben wir, aber unserem Mann ist die Haut von seinem Rücken abgezogen worden.«

Sie gibt ihm eine Arznei und einen guten Trank und sagt ihm, daß der Mann morgen wieder gesund sein werde, daß er aber am nächsten Tag gleich wieder aufbrechen müsse. Er sagt: »Nein, nein; der Teufel mag diese alte Frau holen, wenn er will, aber ich werde dort nicht mehr hingehen.« Doch als er am nächsten Tag durch den guten Trank wieder geheilt ist, bricht er auf. Er zieht sich ein Hemd an, dem die Ärmel fehlen, und alte zerrissene Hosen und geht zu der Alten. Er erzählt ihr, sein Schiff habe an einem Felsen Schiffbruch erlitten, er sei achtundvierzig Stunden herumgewandert; und er bittet sie, ihn ans Feuer zu lassen, damit er seine Pfeife anzünden könne. Sie sagt: »Nein.«

»Hab Mitleid - ich bin so elend; es ist ja nur eine kleine Gefälligkeit, um die ich dich bitte.« »Nein, nein, gestern bin ich getäuscht worden.« Aber der Mann antwortete: »Nicht jeder ist ein Betrüger. Hab keine Angst.«

Die Alte steht auf, um ans Feuer zu gehen, und als sie sich vornüberbeugt, um es herauszunehmen, ergreift der Mann den Feuerstein und entflieht. Er rennt so schnell er nur kann. Aber die Alte läuft so schnell wie unser Läufer; trotzdem erwischt sie ihn erst, als er in das Schiff springt; sie zieht ihm das Hemd herunter und damit die Haut von seinem Nacken und seinem Rücken, und er fällt in das Schiff hinein.

Der Kapitän geht zur Schlange: »Wir haben den Feuerstein.« Sie sagt zu ihm: »Das weiß ich.«

Sie gibt ihm die Medizin und den guten Trank, damit der Mann bis morgen gesund ist und wieder aufbrechen kann. Aber der Mann sagt »nein.« Er wolle diese rotäugige Alte nicht mehr sehen. Sie sagen ihm, daß sie noch die Zunderbüchse brauchen. Am nächsten Tag geben sie ihm den guten Trank. Der macht ihm Mut und weckt in ihm den Wunsch, noch einmal zu gehen.

Er kleidet sich, als ob er Schiffbruch erlitten hätte, halb nackt geht er fort. Er kommt zur Alten und bittet um ein kleines Stück Brot. Lange schon habe er nichts gegessen, und er bittet sie, Mitleid mit ihm zu haben - er wisse nicht, wohin er gehen solle. Die Alte sagt zu ihm: »Schau, daß du weiterkommst, geh, wohin du willst! In meinem Haus wirst du nichts bekommen, und niemand wird hier hereinkommen. Jeden Tag habe ich Feinde.« »Aber was hast du von einem armen Mann zu fürchten, der nur ein bißchen Brot möchte und der dann gleich wieder fortgehen wird?«

Schließlich steht die Alte auf, um zu ihrem Speiseschrank zu gehen, und unser Mann nimmt ihre kleine Zunderbüchse an sich. Die Alte rennt ihm nach, sie möchte ihn fangen, aber unser Mann hat einen Vorsprung. Sie holt ihn gerade noch ein, als er ins Schiff springt. Die Alte bekommt ihn am Nacken zu fassen und zieht ihm die ganze Haut bis zu den Fußsohlen herunter. Unser Läufer fällt zu Boden, und sie wissen nicht, ob er tot oder lebendig ist. Und die Alte sagt:

»Ich gebe ihn und alle, die in diesem Schiff sind, frei.« Der Kapitän geht zur Schlange und sagt zu ihr: »Wir haben die Zunderbüchse, aber unser Läufer ist in großer Gefahr. Ich weiß nicht, ob er am Leben bleiben wird; er hat vom Hals weg bis zu den Fußsohlen hinunter keine Haut mehr.«   - Baskische Märchen. Übs. und Hg. Felix Karlinger und Erentrudis Laserer. Düsseldorf, Köln 1980 (Diederichs, Die Märchen der Weltliteratur)

Läufer (2)  »Es  sind  dir nicht zufällig irgendwelche  Reiter begegnet, mein Kind, als du durch den Wald gingst?« »Doch«, sagte Alice; »es werden wohl einige tausend gewesen sein.«

»Viertausendzweihundertundsieben ist die genaue Anzahl«, sagte der König nach einem Blick ins Notizbuch. »Es fehlen allerdings zwei, denn die werden als Springer für das Spiel gebraucht. Und meine zwei Läufer habe ich auch nicht gesandt. Sie haben beide in der Stadt zu tun. Sieh doch einmal auf die Straße hinunter, ob du einen davon kommen siehst.«

»Auf der Straße sehe ich niemand«, sagte Alice. »Ach, wer solche Augen hätte!« bemerkte der König wehmütig, »mit denen man selbst Niemand sehen kann! Noch dazu auf die Entfernung! Und ich muß schon froh sein, wenn ich in diesem Licht noch die wirklichen Leute sehen kann!« Alice war das alles entgangen, denn sie spähte noch immer auf die Straße hinab und beschattete dabei mit einer Hand die Augen. »Jetzt seh ich jemand!« rief sie zuletzt. »Aber er kommt nur sehr langsam näher - und die merkwürdigen Stellungen, die er dabei vollführt!« (Denn der Läufer hüpfte ständig auf und ab und wand sich dabei wie ein Aal, während er seine Hände rechts und links wie große Fächer aufgespreizt hielt.)

»Das hat nichts zu besagen«,  sagte der König. »Er ist ein germanischer Barfußläufer und fuhrt germanische Urstellungen aus. Das tut er allerdings nur, wenn er heiter ist. Er heißt Hasa.«

»Ich lieb meinen Liebsten mit H«, begann Alice unwillkürlich, »denn er ist Heiter. Ich haß meinen Liebsten mit H, denn er ist Häßlich. Ich speis ihn mit- mit - mit Honigsemmeln und Heu.

Er heißt Hasa und wohnt -«

»Er wohnt auf dem Hügel«, bemerkteder König schlicht, ohne zu ahnen, daß er bei einem Spiel mitmachte, während Alice noch immer nach einer Stadt suchte, die mit H anfängt. »Mein anderer Läufer heißt Hutmar. Du verstehst schon, daß ich zwei haben muß - für hin und für her. Einen für hin und einen für her.«

»Ich bitte um Verzeihung -«, sagte Alice.

»Da mußt du bis zum nächsten Gnadenerlaß warten«, sagte der König.-- Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln. Frankfurt am Main 1974 (zuerst 1872)

 

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