achen, Berliner  Das Lachen in der großen Stadt erschreckt. Es erschreckt wie alles Unerwartete. Der Mann in der dicht voll Menschen gepressten U-Bahn, der einen heiteren Roman liest und plötzlich laut auflacht. erregt in seiner Umgebung Missbehagen. Man sieht verärgert zu ihm auf, dem einen oder anderen kommt für einen Augenblick der Gedanke, der Lacher sei von einem Anfall, von irgendeinem Symptom hysterischer Krankheit befallen. Die drei Männer im Zigarrenladen - Verkäufer und zwei Kunden -, die, über den Ladentisch gelehnt, in dröhnendes Lachen ausbrechen, weil einer von ihnen eine Bemerkung tat, die zu diesem Gefühlsausbruch Anlass gab, unterdrücken die Stimmungsentladung jäh, als ein vierter, fremder eintritt und gleichgültig ein paar Zigaretten verlangt.

Die Fragestellung „Lacht der Berliner?" mag manchem riskant erscheinen; er sieht sehr deutlich die Gefahr, die darin besteht, um jeden Preis zu verallgemeinern, von dem Verhalten Einzelner Rückschlüsse auf das der Gesamtheit ziehen zu wollen und somit ein in seiner Simplifizierung schiefes Bild zu geben. Es soll auch gar nicht versucht werden, zu entscheiden, ob der Berliner in seinem Temperament eher zum Optimismus oder zum Pessimismus neige (wobei dahingestellt sein mag, ob es richtig ist, Lachen unbedingt als Ausdruck von Optimismus anzusehen) - nur eines sei bemerkt; dort, wo der Berliner Berliner wird, wo er also bis zu einem gewissen Grad der privaten Sphäre seines Lebens entschreitet und sich in seiner Funktion als Großstädter der Gesetzmäßigkeit der Stadt - ob er will oder nicht - unterordnet auf der Straße somit im Autobus, auf der Post im Finanzamt kurz: an allen der Allgemeinheit zugänglichen, im eigentlichen „objektiven" Stätten, da lacht er nicht, so wenig wie die Stadt lacht oder sonst einer Anwallung des Gefühls unterliegt - tut er es dennoch, wie jener Mann in der U-Bahn. dann empfindet es die Umgebung als durchaus illegitim, dem Nachdenklichen erscheint es wie ein sehr spontanes, zugleich halb ängstliches und überdies erfolgloses Sich-Aufbäumen gegen die Richtformen, welche die Stadt ihren Menschen auferlegt.

Es mag einer sich in einer Stunde heftiger Zirkulation, etwa zu der Zeit kurz vor Ladenschluß, an einen Punkt stellen,  an dem dieser Verkehr besonders lebhafte Formen annimmt, beispielsweise an die Ecke Leipziger und Friedrich-, oder Tauentzien- und Nürnberger Straße, und sehr scharf die Leute, die an ihm vorbeiströmen, beobachten. Er wird dabei allerlei Feststellungen machen, die manche Vermutung über die Art und Weise gestatten, in der diese Menschen reagieren, wenn sie sich in der Öffentlichkeit bewegen; eines aber wird er in jedem Fall bemerken: kaum je lacht einer, und wenn doch, dann ist es fast immer ein Nicht-Berliner, ein zu Besuch Weilender, der mit der ganzen Unbeschwertheit und Neugierde, fast möchte man sagen: Provokationslust des Fremden in dieser Stadt herumstreicht. - Heinz Berggruen, 7.9.1936, nach: Tagesspiegel v.6.1.2004

Lachen Berlin
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