Der Trickster bei den Großen Müttern

Über Arno Schmidts Erzählmuster

 

1 Paradigma: Das Steinerne Herz - Initiation (allg.) - Trickster-Mythos;
2 Vergleich :
Bilderarsenal  - Figurenarsenal - Grosse Mütter Trickster - Initiation  - Schluß - Ergänzung - Literaturliste - CV - Related Links - [Magisterarbeit von 1989]

Anhand von Arno Schmidts Roman "Das steinerne Herz" wird versucht, den Wiederholungszwängen des Autors auf die Spur zu kommen. Es ergibt sich ein von Anfang an gleichbleibendes Arsenal an Figuren, Metaphern und Handlungsmustern - die Basis des Gesamtwerks. Schmidts (implizites, und nicht nur seines)  Muster ist ein Mythos, die Initiationsgeschichte (die Urform des "Entwicklungsromans")

 

Wiederholungszwänge

"...immer diese Vergangenheiten!"

"Ihr müßt Euch mehr übm, 'Reihen' zu sehen". Mit dieser Mahnung an die Familie Jacobi will Daniel Pagenstecher auf gewisse Sprach- und Motivwiederholungen im Werk Edgar Allan Poes aufmerksam machen. Ähnliche 'Reihen', in seiner Metaphorik wie in seinem Figurenarsenal, finden sich auch bei Arno Schmidt, wie wohl jedem seiner Leser bekannt ist, und 'Plagiat' - die betrügerische Variante des Zitats - heißt eine davon; von den fast wörtlichen Zitaten aus Poes "Heureka" in Schmidts "Leviathan" und dem Radioessay über die literarischen "Meisterdiebe" bis zu "Zettel's Traum" und den Partien über Plagiatsvorwürfe von und an Poe ist das Thema im Gesamtwerk präsent. Die größere 'Reihe', in die es gehört, ist der variantenreiche Umgang seiner Protagonisten mit Wahrheit und Wirklichkeit, auf einer Skala von der aufrichtigen bis zur zynischen Lüge, von der Wunschmagie bis zur Sublimierung. - Zwei Zitate als Ausgangspunkte: "Nun ist 'DAS PLAGIAT ' ja ein unglaublich=weites,(und ergo noch gar nicht gut gewürdichtes), Feld - vom idiotisch=nakktn Diebstahl des ehrgeizijn aber geistig=Armen an; bis zum Selbst=Copiren des Großmeisters;(bei Dem solche 'Wiederholung' einer sehr=merkwürdijen Mitteilung gleichzusetzen sein wird)...". Dazu wird noch Freuds Entdeckung "kryptomnetischer", aus unbewußter Erinnerung stammender, Plagiate erwähnt. Dieser Reihenbildung, dem Sich-'Selbst=Copiren' aus einem konstanten Repertoire (nicht nur Mondmetaphern!) soll im folgenden nachgegangen werden. Meine These ist, daß der Ursprung aller dieser (Selbst-)Plagiats-Reihen, besonders ihrer ersten Form, wie sie in den "Meisterdieben" beschrieben wird, in einem bestimmten Mythos zu finden ist, bzw. in einer universalen Struktur, die mehreren Mythen zugrunde liegt; Schmidts Geschichten erzählen das immergleiche Ritual. Und: Diese rituelle Struktur liegt allen seinen Werken zu Grunde, von den romantisierenden Jugenderzählungen über die Hauptwerke der 50er Jahre bis zu den Typoskriptromanen. Weiterhin: Diese Grundstruktur ist dem Autor zunächst 'kryptomnetisch' unbewußt geblieben, erst die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse hat zu Ansätzen von Reflexion seines Themas geführt, auch in Form von Verdrängung und Projektion, und zur Remythisierung einer Wissenschaft, die allerdings dem Mythos sehr nahe oder gar selbst einer ist, der der bürgerlichen Familie zum Beispiel. - Der Blickwinkel ist also zunächst inhaltlich orientiert, führt aber über die Themen 'Lüge' und Metaphorik wenigstens ansatzweise auch zum Kern von Schmidts Werk, seiner Literatur- oder besser Wahrnehmungstheorie und -praxis.

Als konkreter Name von Schmidts Mythos mag vorläufig "Orpheus" gelten. Seine Behauptung, erst Anfang der 60er Jahre durch Bilder Eberhard Schlotters auf den Einfall zu "Caliban über Setebos" gekommen zu sein, ist fragwürdig: Unterweltsreisen hat er schon immer erzählt. Entsprechende Anspielungen finden sich von Anfang an, der Protagonist der "Schwarzen Spiegel" etwa nennt Orpheus unter seinen "Kollegen Schattenreisenden". - Diese Erzählung mag sogar ein originelleres Ergebnis seiner "Arbeit am Mythos" sein als der etwas überinstrumentierte "Caliban": Orpheus bleibt in der Unterwelt, jedenfalls auf ihrer Schwelle, zurück, Eurydike zieht weiter. - Daß aber eben doch aus diesem Umfeld zitiert wurde, scheint der Behauptung von der kryptomnetischen Reproduktion des Musters zu widersprechen. Schmidt zitierte aber lediglich konkrete Details, Namen von Unterweltsreisenden etwa hinzu, oder auch ähnliche Geschichten, nicht das Muster an sich, in das Unterweltsreisen gehören, und das einen speziellen, von ihm nirgends erwähnten, Namen trägt. Derartige Assoziationen (eher als kalkulierte Zitate) in einer bestimmten Aura, ohne deren Kern zu nennen oder zu kennen, werden noch öfter zu beobachten sein. Schmidt also wollte Unterweltsreisen erzählen, aber ohne das Bewußtsein ihrer Bedeutung, d.h. des Zusammenhangs, in den sie gehören. Die Elemente des behaupteten Mythos sollen nun anhand des "historischen" Romans "Das steinerne Herz" verdeutlicht werden; mit der so gewonnenen Checkliste wird dann ein, angesichts des Umfangs freilich kursorisch-thesenhafter, Gang durch das Gesamtwerk versucht, der die Allgegenwart des Musters anschaulich machen wird.

1 "Das steinerne Herz" als Paradigma

Auf den ersten Blick spiegelt gerade dieser Roman scheinbar nichts als die deutsch-deutsche kleinbürgerliche Realität der 50er Jahre und wäre gemäß seinem - damals wie heute freilich mehrdeutigen - Untertitel eher der "historischen" Welt zuzurechnen als, wie hier behauptet, der mythischen. Die Handlung, soweit sie in der Außenwelt spielt, ist reichlich trivial, und das heißt auch kollektiv, wie alle Mythen: Eine Art Reisegeschichte wie fast immer bei Arno Schmidt, hier sogar eine Collage aus gleich drei Reisen, nach Ahlden, Berlin und nach Hannover. Ein isolierter Einzelgänger, Beruf und Herkunft undefinierbar, fast ohne Vergangenheit oder sonstigen persönlichen Hintergrund, findet mit Hilfe des Zufalls und einiger nach bürgerlichen Maßstäben fragwürdigen Mittel den scheinbar idyllischen "Hafen" einer menage à quatre, - "aber das wechselte!".

In Eggers' Wahrnehmung, ablesbar an seiner Metaphorik, handelt es sich aber um ein ganz und gar nicht harmloses Abenteuer. Zunächst werden mehrfach Grenzüberschreitungen wahrgenommen, die das Betreten eines besonderen Raumes signalisieren: Die Ahldener Straße wird zur "Zahnreihe der Giebelschatten", als ginge es in das Maul eines mythischen Ungeheuers; Eggers muß, ähnlich dem mythischen Jason, durch "Symplegaden von süchtigen Einfällen" hindurch , und auch die hinter ihm zuklappende Gartentür der Thumanns ist für Eggers eine "gefährliche Einrichtung", eine Alltags - Symplegade sozusagen. - Die Zahnreihe ist Teil eines entscheidenden Bildkomplexes des Romans, der eigentlich eine (Unter-)Wasserreise erzählt; vom ersten Satz bis fast zur letzten Seite läßt sich diese Bilderkette verfolgen. Die Klopstockische "Wassertropfen"-Metapher des ersten Satzes, die zunächst durch die ersten Abschnitte entwickelt wird, erhält durch Assoziationen mit "Stickstoff" und "anaerob" die beängstigenden Aspekte einer Poeschen oder auch germanisch-mythischen "Wasserhölle", aus der Eggers auftaucht und die ihn am Ende wieder ansaugen wird. Diese Wassermetaphorik ist nun den ganzen Roman hindurch zu verfolgen, von Eggers' Alltagswahrnehmung bis in seine Träume. Die Bedrohlichkeit dieser Wasserwelt signalisieren "Zähne", besonders die von Frauen. Schon die erste Frau, der er in Ahlden begegnet, die Tochter eines Eisverkäufers, hat "hypergesunde Zähne"; von seinem ersten Ahldener Traum, offenbar nicht dem ersten dieser Art, berichtet er: "[...] rote Fische aßen mich wieder. Weibliches mit dem Gesicht aller Mädchen, beinte heran"; im zweiten Ahldener Traum werden in einem Schwimmbad Mädchen voyiert: "Eine, die mich anlachte, in seegrünen Höschen, hatte doppelte Zahnreihen und einen Bart wie Julia Pastrana"; mehrere Zahnreihen haben Haie zum Beispiel, für die "Quermaul" und "Selachier" Synonyme sind. Aber nicht nur Mädchen drohen mit ihrem Gebiß: Frieda Thumann beißt "mit mörderischem Kuß" einen Faden ab, und das erste erotische Abenteuer mit dem "Fisch" Frieda wird mit einer ganzen Serie bezüglicher Bilder beschrieben; erst als einen "Leichnam" gibt sie Eggers wieder frei.

In der zweiten Episode des Romans, der Berlinreise, tritt dieser Komplex der Unterwasserreise zurück zugunsten eines äquvalenten Bildfeldes, bleibt aber präsent, auch mit Bezügen zum ersten Teil. Eggers' Meerfahrt wird, wie schon im ersten Teil, an den Himmel projiziert: " Die Erde rollte stundenlang unter uns weg [...] Sternströmung I" , der LKW auf dem Weg nach Berlin "fließt" eine Steigung "hinauf", auf der Rückfahrt wird das Auto zum "Blechfloß" und die Straße zum "Tränenband", - aus welchen Gründen, wird noch zu betrachten sein. Am deutlichsten an den ersten Teil des Romans schließt die Aquariumsphantasie in der Ostberliner Staatsbibliothek an : Die Sekretärin ist "glührot wie im Traum", dem von den roten Fischen nämlich. In Ostberlin, bei einem nächtlichen Spaziergang, sieht Eggers nach spöttischen Bemerkungen Line Hübners über ihn einen Schiffbruch am Himmel: " Der Mond machte sich selbst Sandbänke, in denen er dann strandete. Gedankenwatte, Wattenmeer. Sterne krochen Meerleuchten". Ein sich nähernder LKW verwandelt die Rückfahrt wieder in eine nächtliche Unterwasserreise: "Aus der Nacht, aus der Nacht : der schwarze Tiefseefisch glitt surrend heran, speichelte mich vorher mit Lichtgift ein (während ich entsetzt senkrecht rotierte. Besann sich aber, und wandte sich ein Opfer weiter: ich bin der Jonas für den ganz Großen da hinten!)". - Eine zweite, der Unterwasserreise parallele Metaphernkette kulminiert im zweiten Kapitel und wird im ersten schon vorbereitet, die Unterweltsreise. Der "Nekromant Eggers" hört im die Handlung öfter kommentierenden Radio eine "Holberg-Suite", findet ein Buch mit der "Beschreibung von dem Himmel und der Hölle", kommt an einer "Hadeshecke" vorbei, besieht sich die "Privathölle" der Thumanns usw. Die eigentliche Hadesfahrt nach Ostberlin beginnt naturgemäß mit Grenzüberschreitungen: Es geht über eine Allerbrücke, den Mittellandkanal und die DDR-Grenze, an einer "Einherierin" vorbei, und auch Eggers' Begleiter haben Beziehungen zur Unterwelt: Der "Chauffeur" Thumann ruft den "dreimalgroßen Hermes" an, den mythischen Seelengeleiter in die Unterwelt; der Beifahrer liest ein Buch, das "Printed in Weilaghiri" ist, der "Höllenstadt" aus Schmidts Privatmythologie. Das Bild von der Unterwelt wird aber nicht nur durch Zitate hergestellt, sondern in erster Linie durch den Bilder wahrnehmenden Blick des Protagonisten. Am Berliner Grenzübergang schließt sich der Raum, der Mond wird zur "Narbe" in der "Himmelshaut"; es geht, mit Line Hübner, durch einen "finsteren Torbogen" in die "Vorhalle eines Stadtbahnhofs", vorbei an "Schattenscharen von Schornsteinen"; Häuser werden zu "Schattenwürfeln" und der Himmel zum steinernen Gewölbe, nachdem Eggers Thumanns Beischlaf mit Line Hübner voyiert hat: "Mondmoos wucherte an allen Wolken". Eine "Hohlwelt" ist schließlich die Phantasie vom "Leeren Zimmer" ebenso wie die vom "Fliegenden Robert" und die dazu assoziierte "indikopleustisch-geschlossene regnerische Welthalle" des Kosmas.

Im dritten Teil des Romans ist das Wasser-Bildfeld zahlenmäßig weniger präsent, bringt aber als Höhepunkt den, wie die Chaostheoretiker sagen würden, seltsamen Attraktor, auf den Eggers' Bewußtseinsturbulenzen hinlaufen. Einige Zitate spielen zunächst mit Inseln, der "Titanic" und dem "Hafen", den Eggers bei den Thumanns meint gefunden zu haben. Schließlich scheint Eggers aber in einen Sog zu geraten, er deutet Schwindelgefühle an; der Name dieses Sogs ist Frieda Thumann, "das eigentliche Zentrum ; weiß, schwer, magna mater, die Welterhalterin", und das Radio erklärt alles: Es bringt eine Hörspielversion des "Arthur Gordon Pym", zu der "Mutter" assoziiert wird. Zudem häufen sich auf den letzten Seiten die Todesassoziationen, nicht sehr passend zu dem idyllischen Ende.

Die Handlungskurve des "Steinernen Herzen" ist also der Sog, die "Spirale einwärts" der "Berechnungen", mit anderen Worten, Poes schwindelerregender Malstrom. Und die oft mit verdinglichendem Blick, also als beherrschbar, gesehene Frieda Thumann "ist" die weiße Riesengestalt, die vor Pym über dem Malstrom auftaucht, der ihn in der Antarktis ins Erdinnere ansaugen wird. - Festzuhalten ist zunächst, daß Frieda Thumann durchgehend mit der Farbe Weiß assoziiert wird, und daß Bonaparte Poes Vision als Muttersymbol gedeutet hat:

"Denn jetzt taucht die Gestalt auf, auf welche alle Abenteuer und Wanderungen Pyms zusteuerten: die große mütterliche Gottheit, deren Geschlecht zwar nicht angegeben ist, die aber in ihrem Schleier oder Leichentuch ('shroud') wieder nur dieselbe weiße Gestalt sein kann, welche dem delirierenden Edgar Poe auf den Wällen des Gefängnisses von Moyammensing erschienen war, die Mutter also, die ihren Sohn zu sich ruft. Die schneeige Weiße, in der die neue Diana von Ephesus erstrahlt, diese neue Diana, bei welcher die vielen Brüste durch die Milchfarbe, den Überfluß an Milch ersetzt werden, - diese Weiße ist also doppelt und auf einander widersprechende Weise determiniert. Einerseits ist sie das Weiß des Südpols, welche wie die Milch und das Leben warm ist und dadurch an die gesegnete Zeit, in der das Kind an der Mutterbrust gestillt wurde, erinnert; andererseits wird dieses Weiß mit dem Schnee, der Kälte und dem Tod verglichen, es erinnert daher im Unbewußten an die bleiche Hautfarbe der toten Mutter" .

- Auf Schmidt-Pagenstechers Umgang in "Zettel's Traum" mit Marie Bonaparte als Repräsentantin der Psychoanalyse wird noch einzugehen sein. Festzuhalten bleibt zunächst die Mutterassoziation zu dieser Poeschen Figur und ihre Bestätigung durch Schmidts Text, die Ambivalenz dieses Mutter-Bildes und dessen angedeutete Identität mit der mythischen Diana.

Zwei der drei Reisen haben als eigentliches Ziel Frauen, die dritte, nach Hannover, wirkt wie für Frieda Thumann inszeniert, zum höheren Ruhme Eggers'. Es empfiehlt sich also wohl, den Typus, dem die beiden äußerlich so unterschiedlichen Frauen angehören, zu betrachten, um seine Funktion innerhalb der Handlung zu bestimmen. Zudem sind der Protagonist und sein Begleiter zu betrachten, als eigentlich auch nur eine Person, als Aspekte eines mythischen Typus. - Frieda Thumanns mythisches Vorbild wurde schon genannt: "Weiße" Muttergottheiten wie die Isis oder Neith der Typoskriptromane. Deren ambivalenter Charakter, tödlich und lebenspendend in einem, wird in Eggers' wechselndem, vor allem von der Machtperspektive bestimmten Blick auf sie deutlich: Sie wird von ihm sofort, zunächst innerhalb ihrer Ehe, als "Regentin" und "Herrin" wahrgenommen. Ihre tödliche Seite als mythische Herrin der wilden Tiere wurde schon zitiert. Die andere ist eben die der "Welterhalterin", oder Eggers-Erhalterin. - Auf einen zweiten Aspekt dieser matriarchalischen Göttin hat Bonaparte mit ihrem "Diana"-Vergleich hingewiesen: Die jungfräulichen Göttinnen des patriarchalischen Olymp, Athene und Artemis z.B. mit ihren androgynen Zügen, haben diese ältere Göttin beerbt, auch wenn das Erscheinungsbild dem zu widersprechen scheint. Belege liefern Mythologen, Historiker, Ethnologen und nicht zuletzt Poeten wie Arno Schmidt, der zunehmend deutlicher beide Aspekte zusammensieht. Frieda Thumann etwa wird auch als Pallas Athene "im Schürzenpanzer" mit Hexameteranklängen inszeniert, "in der Hand die Besenlanze, links den durst'gen Eimerschild", oder als Hexe mit "Hexenturban", nach Hans Peter Duerr eine weitere Variante der alten matriarchalischen Göttin.

Und mit Hexenassoziationen wird eben auch die zweite weibliche Hauptfigur versehen, Line Hübner. Sie spricht "mit feiner, zitternder Hexenstimme, wie wenn Elisabeth Schwarzkopf dies Dings da aus der Turandot singt" . Das Radio erklärt später ein weiteres Mal die Handlung: "...und Kalafs Stimme tauchte grausam auf und ab" , so wie der Wasserreisende Eggers, möchte man meinen. Also: Es handelt sich um eine Prüfungsgeschichte, und wer die Fragen der Prinzessin nicht beantworten kann, ist des Todes. Eggers' Interesse an ihr - er stammt ebenfalls aus Schlesien - wird zwar nicht direkt artikuliert, ist aber ständig spürbar. - Es fehlen der Line Hübner weder der androgyne Zug, der zum Artemis-Typus und eben zur Großen Mutter gehört, noch die Mondassoziationen.

Die Reise nach Berlin war eine orphische Unterweltsreise wie in "Schwarze Spiegel". Getroffen hat der Protagonist dort eine schlesische Eurydike aus seiner Vergangenheit, wie in "Schwarze Spiegel", in "Pocahontas", in "KAFF", in "Caliban", in ZT usw. Der biographische Hintergrund dieses mythisierten Frauentypus ist inzwischen identifiziert als "Hanne Wulff" oder "Wulf" (die "Anne Wolf" des "Leviathan"), eine von ferne verehrte "Selene" aus Schmidts Fahrschülerzeit; Schmidt selbst hat diese Frauen-Reihe als "H-W Derivate" bezeichnet.

Bisher fügen sich also Handlung und (Frauen-)Figuren zu einer Unterwelts- und Prüfungsgeschichte zusammen, nicht nur wegen der Turandot-Zitate, und nicht erst im Zusammenhang mit Line Hübner. Die gesamte Romanhandlung ist für Eggers von Anfang an eine Serie von Prüfungen. Zunächst mußte vor Frieda Thumann die "Existenz gerechtfertigt" werden, durch die Lüge vom Immobilien-"Einkäufer" zunächst, dann auch durch eine Art Magie, das Auffinden der Goldmünzen nämlich. Der Antwort auf die erste Prüfungsfrage der Line Hübner-Turandot - "Wofür leben Sie eigentlich?" - die Eggers als "Angriff" empfindet, versucht er sich mit einem Bluff zu entziehen, der sich auf seine Sammler-Fassade bezieht: "Was sollte wohl aus dem Königreich Hannover werden?!". "Leichthin=leichther" kommt wenig später aber Lines zweite Prüfungsfrage: "Was wäre denn so Ihr Ideal?" ; worauf Eggers, an voraufgehende Phantasien von geschlossenen Räumen anknüpfend, das Bild einer fast körperlosen Existenz in einem leeren Zimmer entwirft, das als Metapher für seine Isolation eher sein gegenwärtiges Ich und seinen Initianden-Status als sein "Ideal" reflektiert. Line-Turandot "kniff lange den Mund", ohne Antwort, worauf Eggers zum "Haftzeher " oder "Zaunpfahl" werden möchte, offenbar eine Ablehnung seines 'Ideals' verstehend.

Derartige Situationen, in denen weibliche Prüfungsfragen mit mehr oder weniger verschlüsselten Selbstdarstellungen des Protagonisten beantwortet werden, finden sich immer wieder in Schmidts Werk: Die Kosmologie des "Leviathan" hat diese Funktion, die Kindheitsgeschichte in "Schwarze Spiegel", die Fouqué-Vorlesungen in "Brand's Haide", das Steinzeit-LG in "Pocahontas", die Mondgeschichte in "KAFF", die Poe-Analyse in "Zettel's Traum", die Inselgeschichte in "Schule der Atheisten", die kaum noch stilisierte Jugendgeschichte in "Abend mit Goldrand" - alles ist in einem Prüfungskontext vor matriarchalischen Instanzen lesbar. Zudem zeigt der geschlossene Raum, die "Hohlwelt", hier eine subjektive und sehr ambivalente Bedeutung: Er ist nicht nur Unterwelt, sondern auch eine Metapher für das solipsistisch-geschlossene Ich des Protagonisten, an dem er festhalten möchte, aus dem er aber auch einen Ausit weg zu suchen scheint. - Es handelt sich offenbar um eine doppelte matriarchalische Prüfung; der Berliner Versuch, bei der Tricks nichts nützten, scheint gescheitert zu sein, Eggers bringt zunächst lediglich ein Buch mit zurück. Die Versuche bei Frieda Thumann scheinen erfolgreicher gewesen zu sein, sowohl in Ahlden als auch in Hannover, einer Old Shatterhand- oder halefartigen Episode. Aber nur vorläufig, wie wir gesehen haben: Eggers treibt auf einen Malstrom zu. - In diesen Prüfungskontext gehört auch eine in Schmidts Texten allgegenwärtige Metaphern-Reihe, das Himmelsauge, sowohl in der matriarchalischen (Mond) als auch in der patriarchalischen Version (Sonne). Prüfend ist dessen Blick nicht nur in "Das steinerne Herz", sondern auch von der ersten Seite des "Faun" bis zur letzten von Zettel's Traum", mit der "Furienmaske" der Sonne.

Auch ohne bisher die männlichen Protagonisten näher betrachtet zu haben, sind nun die Merkmale beisammen, um den allgemeineren Namen des orphischen Erzählmusters von Arno Schmidt benennen zu können: Reisegeschichten, in denen ein von seinen bisherigen alltäglichen Lebensumständen isoliertes Individuum eine Schwelle zu einem gefährlichen Bereich - Unterwelt oder Unterwasserwelt - überschreitet, um eine Prüfung vor einer göttlichen weiblichen Instanz abzulegen, sind Initiationsgeschichten; Orpheus galt in der Antike auch als der "Begründer aller Initiationen".

Mircea Eliade definiert Initiation als

"Gesamtheit von Riten und mündlichen Lehren, die den Zweck haben, eine radikale Veränderung des religiösen Status der Person zu bewirken, die eingeweiht werden soll. Im philosophischen Sprachgebrauch ist die Initiation gleich einer ontologischen Mutation des existentiellen Zustandes. Der Novize steigt aus seiner Prüfung als ein vollkommen anderes Wesen heraus: Er ist ein anderer geworden".

Gemeint ist also nicht nur die Altersklasseninitiation, literarisch gesprochen: die Pubertätsgeschichte. Eliade unterscheidet drei Typen: Neben der genannten kollektiven noch die (individuelle) Initiation in Geheimgesellschaften und die schamanistische. Die Struktur des Rituals, des Mythos, ist allen dreien gemeinsam. Für die Literaturanalyse wurde diese Struktur in Deutschland meines Wissens zuerst von Peter Freese in seiner Arbeit über J.D. Salingers "Catcher in the Rye" benutzt. Er sieht im Anschluß an Mircea Eliade eine dreiphasige Struktur von "Ausgang, Übergang, Eingang" , wobei "Ausgang" die Trennung des Initianden von seinen bisherigen Lebensumständen meint, seine Isolation. Der "Übergang", der Hauptteil der Geschichte, enthält ein "Schwellenabenteuer" , eine Prüfung; in Gestalt eines Abstiegs in die Unterwelt, als Rückkehr in den Mutterleib oder als "Nachtmeerfahrt" erleidet der Novize einen symbolischen "Initiationstod". Als "Eingang" wird schließlich die Wiedergeburt des Helden bezeichnet, die "Gewinnung eines neuen Selbst", oft symbolisiert durch einen neuen Namen, neue Kleider usw. Wichtig ist noch die Figur des Initiationshelfers, des Mentors. - Die Argonautenfahrt oder Theseus' Labyrinth-Abenteuer sind Beispiele für mythische Initationsgeschichten.

Der Blick durch diese Brille läßt vieles in Arno Schmidts Romanen wiedererkennen, aber auch Variationen des Musters bemerken. Der "Ausgang" des Helden aus seiner bisherigen Lebenswelt wird kaum je geschildert, auch nicht in StH. Dafür stehen aber oft Bahnfahrten oder Bahnhöfe als symbolische Orte der Trennung und des Neubeginns in vielen Geschichten. Auf Eggers' Isolation, seine biographische Hintergrundlosigkeit, die dem Ausgangs-Status des Initianden entspricht, wurde schon hingewiesen. Die Schwellensymbolik der Übergangs-Phase findet sich wieder, das Verschlungenwerden durch ein die Erde oder sonst ein mütterliches Element symbolisierendes Ungeheuer, ebenso die Unterweltsreise; Freese zitiert, wie Arno Schmidt selbst, den biblischen Jonas als Beispiel für eine"Nachtmeerfahrt"als Variante der Unterweltsreise.

Zu den Variationen des Musters gehört das scheinbare Fehlen des Mentors und der Eingangs-Phase, d.h der Rückkehr des wiedergeborenen Helden. Schmidts Protagonisten finden sich am Ende in einem noch genauer zu betrachtenden Zwischenzustand, eine Wiedergeburt scheint nicht stattgefunden zu haben.

Der Protagonist

Über die Psychologie des Sammlers und die erotischen Konnotationen zum Umgang mit Büchern ist Zettel's Traum" 632 nachzulesen. Der "Historiker" nach Eggers - "keine Religion, kein Vaterland, keine Freunde" - definiert geradezu die 'Ausgangs'-Phase des isolierten Initianden, wie sie im Mythos steht. Scheinbar sehr verschiedene Charakterzüge Eggers' ermöglichen es aber, ihn nicht nur einem psychologischen, sondern einem mythischen Typus zuzuordnen: Seine allwissende Göttlichkeit, die sich in seinem allzu passenden historischen und numismatischen Wissen zeigt, das am Ende zur - vorläufigen - Lösung aller Probleme der " Großen Vier " führt, sein merkwürdig inkonsistentes Körper- oder Ichbewußtsein, und schließlich ein auffallender betrügerischer Zug.- Die Dissoziation von Kopf und Rumpf, Körper und Bewußtsein, in den "Ich"-"Moi"- Partien des Romans hat sicher auch noch andere Aspekte als den hier gemeinten Ausdruck eines archaischen Ich: Den des Ekels (und das heißt auch: der Angst) und des puritanischen Körperhasses, nicht erst in ZT; und noch einen weiteren, utopischen, als eines der möglichen Ziele der angestrebten Wiedergeburt. - Literarisch kann noch Schmidts immer wieder bekundetes Interesse an dem hochfliegenden Don Quichote und seinem irdischeren Sancho in diesem Kontext gesehen werden.

Der wichtigste Zug des Typus Eggers aber ist die Gaunerei - natürlich auch ein mythisch-göttlicher Zug, denn "der Eid paßt nicht in den Mythos, wo kein Trug ausgeschlossen ist", vom griechischen Hermes bis zum germanischen Loki. Bis zum Ende des Romans erklärt Eggers den Thumanns den eigentlichen Zweck seiner Reise nicht, gesetzt natürlich, er sei ihm selbst bewußt. Als "Einkäufer" von Immobilien präsentiert er sich Frieda Thumann anfangs, was am Ende doch auch wieder zutrifft. Dem Karl Thumann erzählt er, in "Hermeskeil" auf dem Gutshof einer Tante zu wohnen, dem Leser, sich einen alten Personalausweis entsprechend "umradiert" zu haben und in Saarburg "'Zu Hause'" zu sein. In Ostberlin werden der Staat um den Strom - wozu Eggers "Manolescu, König der Diebe" einfällt - und der Leviathan um seine Kinder "geprellt ; "umradiert" wird auch eine Totenschein, um Line Hübners Umsiedlung nach Ahlden zu ermöglichen; dazu kommen die beiden Ehebrüche, kleinere Manöver wie der Betrug eines Chauffeurs mit Ostgeld oder der Diebstahl eines Kartons, nachdem dessen Besitzer ihm schon einen anderen geschenkt hatte: "Niemand sah mich; da kann ich vielleicht auch das noch mitnehmen". Am deutlichsten ist natürlich der Bücher-"Tausch" in der Ostberliner Staatsbibliothek: Hermes geleitet nicht nur die Verstorbenen in die Unterwelt, er ist auch der Gott der Kaufleute und der Diebe und gelegentlich in Hermeskeil "zu Hause". - Der griechische Name des göttlichen Betrügers wurde genannt, er hat aber, wenigstens seit dem von C.G. Jung und Karl Kerényi kommentierten Buch des amerikanischen Ethnologen Paul Radin , auch einen universalen: Trickster .

Gemeint ist eine amoralische Mischung aus Narr und Gauner, zugleich Kulturheros und Feind der Götter. Hermes und Prometheus werden als europäische Varianten des Mythos verstanden, Eulenspiegel, Reineke Fuchs, der Picaro und der Clown als seine Nachfahren; noch Walter Serners oder Thomas Manns Hochstapler gehören in diese Reihe. Radin hat einen Geschichten-Zyklus nordamerikanischer Indianerstämme herausgegeben und kommentiert; er beschreibt den Trickster unter anderem als

"Gott, Tier, menschliches Wesen, Held, Possenreißer, er, der vor Gut und Böse da war, Verneiner, Bejaher, Vernichter und Schöpfer". "Jederzeit ist er [der Trickster, H.D.] durch Impulse, die er nicht zu beherrschen vermag, gezwungen, sich so zu benehmen, wie er es tut. Er kennt weder Gut noch Böse, ist jedoch für beides verantwortlich. Er kennt weder moralische noch soziale Werte, ist seinen Lüsten und Leidenschaften ausgeliefert, und doch werden alle Werte durch seine Taten ins Leben gerufen. Aber nicht nur er, sondern auch die anderen handelnden Gestalten, die Tiere, die Ungeheuer, der Mensch, besitzen diese gleichen Eigenschaften".

Radin, wie auch C.G. Jung, sieht diese mythische Figur unter bewußtseinsgeschichtlichem Aspekt als eine Vorform des menschlichen Ich-Bewußtseins:

"Er [der Zyklus, H.D.] vereinigt in sich die vagen Erinnerungen einer archaischen und uranfänglichen Vergangenheit, wo es noch keine klaren Unterscheidungen zwischen Göttlichem und Nichtgöttlichem gab. Für diese Periode ist der Schelm das Symbol. Sein Hunger, seine Sexualität, seine Wanderlust gehören weder den Göttern noch den Menschen an. Sie gehören stofflich und geistig zu einem anderen Reich, und deshalb wissen weder die Götter noch die Menschen etwas mit ihm anzufangen. Das Symbol, das der Schelm verkörpert, ist kein statisches. Es enthält die Verheißung der Differenzierung, das Verheißen von Gott und Mensch."

Gelegentlich verteilt auf die beiden männlichen Hauptfiguren, sind die Merkmale dieser mythischen Figur unter deren kleinbürgerlicher Oberfläche wiederzuerkennen, ähnlich wie bei den Frauenfiguren auch: Die 'tierische' Seite (Hunger, Sexualität und Wanderlust) vornehmlich bei Karl Thumann, die 'göttlich'-schöpferische des "Kulturheros" mutatis mutandis bei Walter Eggers, der den Thumanns zwar nicht wie Prometheus das Feuer bringt, aber doch Reichtum und eine neue Lebensform. Andererseits: In Eggers' Dissoziation zu 'Ich' = Bewußtsein und 'Moi' = Körper steckt eine merkwürdige Parallele zu dem archaischen Körperbewußtsein des Trickster, wie es die 16. Episode von Radins Sammlung zeigt. - Natürlich ist eine Figur wie Karl Thumann nicht auf den Sancho-Pansa-Aspekt des Trickster zu reduzieren, den es eben auch in dem Don Quichote Eggers gibt; er trägt, als Eggers' "Chauffeur", der diesen in den Berliner Hades führt, wie dieser selbst auch, Züge des Seelengeleiters Hermes, also wohl auch eines väterlichen Initiations-Mentors, was auf einen patriarchalischen Aspekt von Schmidts Initiationsgeschichten hindeutet. Daß Eliade die Feindschaft des Trickster zu den Göttern betont, paßt zu Schmidt-Eggers' Atheismus und deutet noch einmal in dieselbe Richtung.

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© Hartmut Dietz