Das berüchtigte Buch von Henkel über Schmidt als
Betrüger habe ich immer noch nicht gelesen, aber eine passende Stelle
aus einem sehr guten Aufsatz von Franz Fühmann zum Thema 'Mythos'
(wieder)gefunden:
"Eine der großen alten Mythenerzählerinnen unter uns ist Anna
Seghers, und es gibt eine Geschichte von ihr, die immer wieder zitiert und
gelesen und vorgelesen wird, obwohl sie eigentlich doch gar keine sonderlich
starke Geschichte zu sein scheint, und die zudem noch einen schrecklich
anmutenden Lapsus enthält - das ist die Geschichte mit dem Schilfrohr.
Ein ganz einfacher Zusammenhang: Ein verfolgter Antifaschist wird von einer
Unbekannten in einem markischen See verborgen, und zwar mit einem Schilfrohr
im Mund, damit er während dieser Stunden auch Luft bekommt - nur: durch
ein Schilfrohr bekommt man nicht Luft, das ist innen von Knoten zugewachsen
- ein schrecklicher Fehler, nicht wahr? Aber seltsam - dennoch, und ich wage
zu sagen: gerade deshalb blüht die Erzählung auf und wird groß.
Denn statt des langweiligen und für die Dichtung hier gänzlich
gleichgültigen botanisch Richtigen der Schilfhalmanatomie ist etwas
unvergleichlich Anderes, Größeres, Unsterbliches in diese Prosa
gekommen: die Natur selbst nimmt diesen Flüchtling auf, sie schließt
ihn in ihrem mütterlichsten Reich ein, im See, im Wasser, im Uterus,
das ist ein uraltes Mythenmotiv, in zahllosen Märchen kommt es vor,
der Held, der sich am Grund des Sees versteckt - Mutter Erde selbst verbirgt
ihn, so gerecht ist die Sache gegen die Nazis, so groß ist die Kraft
der Schwachen -, es ist ein Unsterblichkeitszug. Das botanisch Richtige ist
etwas ganz Anderes - und das kann man in jedem Lehrbuch finden, und in diesem
Zusammenhang darf an das Wort Goethes zur Literatur erinnert werden: «Das
Richtige allein ist nicht sechs Pfennige wert, wenn es weiter nichts zu bringen
hat!» (Franz Fühmann, "Das mythische Element in der
Literatur". 1975)
Ebenso "wahr" wie der "Unsterblichkeitszug" bei Seghers ist auch Schmidts kontrahierender Kosmos des "Leviathan" - mit einem Unterschied: Schmidt beruft sich explizit auf die Wissenschaft, - eine noch kompliziertere "Wahrheit". Außerdem ist Schmidt hier sehr traditionell - er projiziert innere Zustände nach außen, wie in der Lyrik seit Urzeiten üblich. - (s m)