DER REVOLUTIONÄRE KATECHISMUS
Die Pflichten des Revolutionärs sich selbst gegenüber
1. Der Revolutionär ist ein vom Schicksal verurteilter Mensch. Er hat
keine persönlichen Interessen, keine geschäftlichen Beziehungen,
keine Gefühle, keine seelischen Bindungen, keinen Besitz und keinen
Namen. Alles in ihm wird von dem einzigen Gedanken an die Revolution und
von der einzigen Leidenschaft für sie völlig in Anspruch genommen.
2. Der Revolutionär weiß, daß er in der Tiefe seines Wesens,
nicht nur in Worten, sondern auch in Taten, alle Bande zerrissen hat, die
ihn an die gesellschaftliche Ordnung und die zivilisierte Welt mit allen
ihren Gesetzen, ihren moralischen Auffassungen und Gewohnheiten und mit allen
ihren allgemein anerkannten Konventionen fesseln. Er ist ihr
unversöhnlicher Feind, und wenn er weiterhin mit ihnen zusammenlebt,
so nur deshalb, um sie schneller zu vernichten.
3. Der Revolutionär verachtet alle Doktrinen und lehnt die weltlichen
Wissenschaften ab, die er künftigen Generationen überläßt.
Er kennt nur eine Wissenschaft: die Wissenschaft der Zerstörung. Aus
diesem Grund, aber nur aus diesem Grund, wird er sich dem Studium der Mechanik,
der Physik, der Chemie und vielleicht der Medizin zuwenden. Aber Tag und
Nacht befaßt er sich eingehend mit der allein wesentlichen Wissenschaft:
mit dem Menschen, mit seinen entscheidenden Merkmalen und seinen
Lebensumständen und allen Erscheinungen der gegenwärtigen
Gesellschaftsordnung. Das Ziel ist stets das gleiche: die sicherste und
schnellste Methode, diese ganze verrottete Ordnung zu zerstören.
4. Der Revolutionär verachtet die öffentliche Meinung. Er verachtet
und haßt das bestehende gesellschaftliche Moralgesetz in allen seinen
Äußerungen. Für ihn ist Moral das, was zum Sieg der Revolution
beiträgt. Unmoralisch und verbrecherisch ist hingegen alles, was diesem
im Weg steht.
5. Der Revolutionär ist ein Mensch, der sich seiner Aufgabe verschrieben
hat, dem Staat und den gebildeten Ständen gegenüber erbarmungslos;
und von ihnen kann er keine Gnade erwarten. Zwischen ihm und ihnen besteht,
offen erklärt oder im Verborgenen, ein schonungsloser, unversöhnlicher
Krieg bis auf den Tod. Er muß sich an die Folter gewöhnen.
6. Tyrannisch gegenüber sich selber, muß er auch anderen
gegenüber tyrannisch sein. Er muß all die sanften, schwächenden
Gefühle der Verwandtschaft, Liebe, Freundschaft, Dankbarkeit und sogar
der Ehre in sich unterdrücken und der eiskalten, zielstrebigen Leidenschaft
für die Revolution Raum geben. Für ihn gibt es nur eine Freude,
einen Trost, einen Lohn und eine Befriedigung — den Erfolg der Revolution.
Tag und Nacht darf er nur einen Gedanken haben, ein Ziel vor sich sehen —
erbarmungslose Zerstörung. Während er unermüdlich und
kaltblütig diesem Ziel zustrebt, muß er bereit sein, sich selber
zu vernichten und mit seinen eigenen Händen alles zu vernichten, das
der Revolution im Wege steht.
7. Das Wesen des wahren Revolutionärs schließt jede
Sentimentalität, alle roman tischen Gefühle, jede Verliebtheit
und jede Verzückung aus. Die revolutionäre Lei denschaft, in jedem
Augenblick des Tages praktiziert, bis sie zur Gewohnheit wird, muß
mit kühler Berechnung eingesetzt werden. Zu allen Zeiten und an allen
Orten darf der Revolutionär nicht etwa seinen persönlichen Impulsen
gehorchen, sondern nur jenen, die der Sache der Revolution dienen.
Die Beziehungen des Revolutionärs zu seinen Genossen
8. Der Revolutionär kann keine Freundschaft oder Bindung kennen außer
zu jenen, die durch ihr Handeln bewiesen haben, daß sie, ebenso wie
er, sich der Revolution geweiht haben. Der Grad der Freundschaft, der Ergebenheit
und Verpflichtung gegenüber einem solchen Genossen wird einzig und allein
durch den Grad seiner Nützlichkeit für die Sache der totalen
revolutionären Zerstörung bestimmt.
9. Es erübrigt sich, von Solidarität unter Revolutionären
zu reden. Darauf beruht die ganze Kraft der revolutionären Arbeit. Genossen,
die die gleiche revolutionäre Leidenschaft und die gleiche
revolutionäre Erkenntnis besitzen, sollten so weit wie möglich
alle wichtigen Angelegenheiten miteinander beraten, um dann zu einstimmigen
Beschlüssen zu gelangen. Hat man sich erst einmal für einen bestimmten
Plan entschlossen, dann muß sich der Revolutionär ganz allein
auf sich selber verlassen. Bei Durchführung von Zerstörungsaktionen
sollte jeder allein handeln und sich bei keinem anderen Rat und Hilfe holen,
es sei denn, daß dies für die Durchführung des Plans notwendig
ist.
10. Alle Revolutionäre sollten Revolutionäre zweiten oder dritten
Grades unter sich haben — das heißt, Genossen, die nicht völlig
eingeweiht sind. Diese sollte der Revolutionär als einen Teil des
gemeinschaftlichen revolutionären Kapitals betrachten, das ihm zur
Verfügung steht. Dieses Kapital sollte selbstverständlich so sparsam
wie möglich ausgegeben werden, um den höchstmöglichen Gewinn
zu erzielen. Der wahre Revolutionär sollte sich selber als Kapital
betrachten, das dem Triumph der Revolution geweiht ist; jedoch darf er ohne
die einmütige Zustimmung aller vollkommen eingeweihten Genossen nicht
persönlich und allein über dieses Kapital verfügen.
11. Ist ein Genosse in Gefahr und erhebt sich die Frage, ob er gerettet werden
soll oder nicht, darf die Entscheidung nicht auf der Grundlage von Gefühlen
gefällt werden, sondern einzig und allein nach den Gesichtspunkten des
Interesses der revolutionären Sache. Daher ist es notwendig, die
Nützlichkeit des Genossen gegenüber dem Einsatz der für seine
Rettung notwendigen revolutionären Kräfte abzuwägen, und die
Entscheidung muß dementsprechend getroffen werden.
Die Beziehungen des Revolutionärs zur Gesellschaft
12. Das neue Mitglied kann, nachdem es seine Loyalität nicht durch Worte,
sondern durch Taten bewiesen hat, nur auf Grund einmütigen
Einverständnisses aller Mitglieder in die Gesellschaft aufgenommen
werden.
13. Der Revolutionär dringt in die Welt des Staates, der privilegierten
Klassen der sogenannten Zivilisation ein und lebt in dieser Welt nur zu dem
Zweck, ihre rasche und totale Zerstörung herbeizuführen. Er ist
kein Revolutionär, wenn er auch nur die geringste Sympathie für
diese Welt aufbringt. Er sollte nicht zögern. irgendeine Stellung, einen
Ort oder einen Mann auf dieser Welt zu zerstören. Er muß alle
und alles in ihr mit dem gleichen Haß hassen. Um so schlimmer für
ihn, wenn er irgendwelche Beziehungen zu Eltern, Freunden oder geliebten
Wesen hat; läßt er sich von diesen Beziehungen ins Schwanken bringen,
ist er kein Revolutionär mehr.
14. Mit dem Ziel der unversöhnlichen
Revolution vor Augen wird der Revolutionär häufig innerhalb der
Gesellschaft leben, er muß es sogar, während er vorgibt, ein ganz
anderer zu sein als der, der er wirklich ist, denn er muß überall
eindringen, in die höheren und mittleren Stände, in die
Handeishäuser, die Kirchen und die Paläste der Aristokratie, und
in die Welt der Bürokratie, der Literatur und des Militärs, und
auch in die Dritte Abteilung und den Winterpalast des Zaren.
15. Diese schmutzige
Gesellschaftsordnung läßt sich in verschiedene Kategorien aufteilen.
Die erste Kategorie umfaßt jene, die unverzüglich zum Tod zu
verurteilen sind. Genossen sollten eine Liste jener aufstellen, die nach
der jeweiligen Schwere ihrer Verbrechen verurteilt werden sollten; und die
Hinrichtungen sollten nach der ins Auge gefaßten Reihenfolge
durchgeführt werden.
16. Sobald eine Liste jener, die verurteilt sind, aufgestellt und die Reihenfolge
der Hinrichtungen festgelegt ist, sollte keinem persönlichen Gefühl
der Empörung nach gegeben werden, auch ist es nicht nötig, den
Haß zu beachten, der von diesen Leuten unter den Genossen oder beim
Volk provoziert wird. Haß und das Gefühl der Empörung
können sogar insoweit nützlich sein, als sie die Massen zur Erhebung
aufreizen. Man darf sich bei allem nur von der jeweiligen Nützlichkeit
dieser Exekutionen für die Sache der Revolution leiten lassen. Vor allem
aber müssen jene, die der revolutionären Organisation besonders
feindselig gegenüberstehen, vernichtet werden; ihr plötzlicher,
gewaltsamer Tod wird in der Regierung die höchste Panik auslösen
und dadurch, daß man ihre tüchtigsten und tatkräftigsten
Anhänger um-brachte, ihr jeden Willen zum Handeln rauben.
17. Der zweiten Kategorie gehören jene an, die vorläufig verschont
werden, damit sie durch eine Reihe ungeheuerlicher Handlungen das Volk zum
unvermeidlichen Aufstand treiben.
18. Die dritte Kategorie besteht aus einer hohen Zahl von Rohlingen in hohen
Stellungen, die sich weder durch Tüchtigkeit noch durch Energie hervorgetan
haben, während sie sich dank ihres Ranges, ihres Reichtums, ihres
Einflusses, ihrer Macht ihrer hohen Stellungen erfreuen können. Diese
müssen auf jede nur mögliche Weise ausgebeutet werden; man muß
sie in unsere Angelegenheiten verwikkeln und hineinziehen, ihre schmutzigen
Geheimnisse müssen ausspioniert werden, und man muß sie in Sklaven
verwandeln. Ihre Macht, ihr Einfluß und ihre Verbindungen, ihr Reichtum
und ihre Energie werden bei allen unseren Unternehmungen einen
unerschöpflichen Schatz und eine wertvolle Hilfe darstellen.
19. Die vierte Kategorie umfaßt ehrgeizige Amtspersonen und Liberale
der ver schiedensten Schattierungen. Der Revolutionär muß sich
den Anschein geben, als arbeitete er mit ihnen zusammen, als folgte er ihnen
blindlings, während er gleichzeitig ihre Geheimnisse ausspioniert, bis
sie völlig in seiner Macht sind. Sie müssen so kompromittiert sein,
daß es für sie keinen Ausweg gibt, und dann kann man sich ihrer
bedienen, um im Staat Unordnung zu schaffen.
20. Der fünften Kategorie gehören jene Doktrinäre,
Verschwörer und Umstürzler an, die auf dem Papier oder in ihren
Cliquen eine gute Figur machen. Sie müssen ständig dazu getrieben
werden, kompromittierende Erklärungen abzugeben: das Ergebnis wird sein,
daß die Mehrzahl von ihnen vernichtet wird, während sich die kleinere
Zahl zu echten Revolutionären entwickelt.
21. Die sechste Kategorie ist besonders wichtig: die Frauen. Sie lassen sich
in drei Gruppen aufteilen. Erstens jene frivolen, gedankenlosen, langweiligen
Frauen, deren wir uns bedienen werden wie der dritten und vierten Kategorie
der Männer. Zweitens Frauen, die leidenschaftlich, tüchtig und
hingebungsvoll sind, aber nicht zu uns gehören, weil sie noch keine
leidenschaftslose, strenge, revolutionäre Erkenntnis entwickelt haben;
sie muß man benutzen wie die Männer der fünften Kategorie.
Und schließlich gibt es die Frauen, die völlig auf unserer Seite
stehen, das heißt jene, die sich ganz der Sache hingeben und unser
Programm in seiner Gesamtheit anerkannt haben. Wir sollten diese Frauen als
unseren wertvollsten Schatz betrachten; ohne ihre Hilfe bliebe uns der Erfolg
versagt.
Die Einstellung der Gesellschaft gegenüber dem Volk
22. Die Gesellschaft hat kein anderes Ziel als die vollkommene Befreiung
und die vollkommene Zufriedenheit der Massen, das heißt der Menschen,
die von Hände-arbeit leben. In der Überzeugung, daß ihre
Emanzipation und die Sicherstellung ihrer Zufriedenheit nur als Folge eines
alles zerstörenden Volksaufstandes herbeigeführt werden können,
wird die Gesellschaft alle ihre Mittel und ihre ganze Kraft darauf lenken,
die Not und die Leiden des Volkes zu steigern und zu intensivieren, bis
schließlich seine Geduld erschöpft ist und es zu einem allgemeinen
Aufstand getrieben wird.
23. Unter Revolution versteht die Gesellschaft keinen in Ordnung sich
vollziehenden Aufstand nach dem klassischen westlichen Vorbild, ein Aufstand,
der stets kurz vor dem Angriff auf die Rechte des Eigentums und die traditionelle
gesellschaftliche Ordnung der sogenannten Zivilisation und ihrer Moral
stehenbleibt. Bis jetzt hat sich eine solche Revolution stets darauf
beschränkt, eine politische Ordnung zu stürzen, um sie durch eine
andere zu ersetzen, wobei sie den Versuch unternahm, einen sogenannten
revolutionären Staat zu schaffen. Die einzige Form einer Revolution,
die dem Volk zugute kommt, ist die, die den gesamten Staat bis zu seinen
Wurzeln hinab vernichtet und alle staatlichen Traditionen, Institutionen
und Klassen in Rußland ausrottet.
24. Mit diesem Ziel vor Augen lehnt die Gesellschaft es daher ab, irgendeine
neue Organisation von oben her dem Volk aufzuerlegen. Jede künftige
Organisation wird sich zweifellos durch die Regsamkeit und das Leben des
Volkes durchsetzen; aber das ist eine Angelegenheit, die künftige
Generationen zu entscheiden haben werden. Unsere Aufgabe ist furchtbare,
totale, universale und erbarmungslose Zerstörung.
25. Deshalb müssen wir, indem wir näher ans Volk heranrücken,
vor allem mit jenen Elementen der Massen gemeinsame Sache machen, die seit
Gründung des Moskowiter Reiches niemals aufgehört haben, und zwar
nicht nur in Worten, sondern auch in Taten, gegen alles zu protestieren,
was mittelbar oder unmittelbar mit dem Staat verbunden war: gegen den Adel,
die Bürokratie, die Geistlichkeit, die Händler und die parasitischen
Kulaken. Wir müssen uns mit den abenteuerlustigen Stämmen von Briganten
verbünden, die die einzig wahren Revolutionäre Rußlands sind.
26. Das Volk zu einer einzigen unbesiegbaren und alleszerstörenden Kraft
zu sammenzuschmieden — das ist Ziel unserer Verschwörung und unsere
Aufgabe.
Sergej Netschajew (ca. 1870) nach: Robert Payne: Lenin - Sein Leben und sein Tod. München 1965