DIE GESCHICHTE VON DER MESSINGSTADT

(aus: Die Erzählungen aus den tausendundein Nächten, 566. bis 578. Nacht. Übs. Enno Littmann,
© Insel Verlag)

Teil 2

 

 Jener antwortete: ,Wisse, ich bin ein Dämon aus der Geisterweit, und ich heiße Dâhisch ibn el-A‘masch. Ich bin hier festgebannt durch die Hochherrlichkeit, eingesperrt durch dieAllmacht und gestraft, solange es Allah, dem Allgewaltigen und Glorreichen, gefällt.‘ Weiter sagte der Emir Mûsa: ,Scheich ,Abd es-Samad, frage ihn, weshalb er in diese Säule eingesperrt ist!‘ Wie der Alte den Dämon danach fragte, erwiderte jener:

,Meine Geschichte ist wunderbar. Einer der Söhne des Iblîs hatte nämlich ein Götzenbild aus rotem Karneol, undich mußte es bewachen. Ihm diente einer der Meerkönige, ein Fürst von hoher Macht und gewaltiger Herrscherpracht; der gebot über tausendmal tausend streitbare Geister, dievor ihm ihre Schwerter schwangen und in Zeiten derNot seinemRufe Folge leisteten. Die Geister aber, die ihm dienten, standen alle unter meinem Gebot und Geheiß und folgten den Befehlen, die ich ihnen gab; doch alle waren Rebellen gegen Salomo, den Sohn Davids — über beiden sei Heil! Und ich pflegte in den Bauch des Götzenbildes zu kriechen, wenn ich den Geistern gebot und verbot. Nun liebte die Tochter jenes Königs das Bild, sie warf sich oft vor ihm nieder und gab sich ganz seinem Dienste hin. Und sie war das schönste Wesen ihrer Zeit, strahlend in Schönheit und Lieblichkeit, Anmut und Vollkommenheit. Ich erzahlte einst Salomo — Heil sei über ihm! — von ihr, und da sandte er alsbald an ihren Vater eine Botschaft des Inhalts: ,Gib mir deine Tochter zur Gemahlin, zerbrich dein Götzenbild aus Karneol und bezeuge, daß es keinen Gott gibt außer Allah und daß Salomo der Prophet Allahs ist! Wenn du das tust, so soll unser Gut dein Gut und unsere Schuld deine Schuld sein. Wenn du dich aber weigerst, so werde ich mit einem Heere wider dich ausziehen, dem du nicht zuwiderstehen vermagst; dann mache dich auf Rechenschaft vor Gott gefaßt und lege das Hemd an, das zum Tode paßt! Fürwahr, ich werde mit Heerscharen zu dir kommen, deren Fülle das Blachfeld bedeckt; die machen dich dem Gestern gleich, das keiner zum Leben auferweckt.‘ Als die Botschaft Salomos — Heil sei über ihm! — den König erreichte, schwoll er in rebellischem Übermut, voll Hoffart und überstolzem Blut. Dann sprach er zu seinen Wesiren: ,Was sagt ihr von Salomo, dem Sohne Davids? Der hat zu mir gesandt, ich solle ihm meine Tochter geben, solle mein Götzenbild aus Karneol zerbrechen und seinen Glauben annehmen!‘ Sie antworteten: ,Mächtiger König, kann Salomo so an dir handeln, da du doch mitten in diesem großen Meere wohnst? Zieht er auch wider dich, so vermag er nichts über dich; denn die Mârids der Geisterwelt kämpfen an deiner Seite, und wenn du das Götzenbild um Hilfe wider ihn anrufst, so wird es dir gegen ihn beistehen und den Sieg verleihen. Das rechte ist, wenn du deinem Herrn — damit meinten sie das Götzenbild aus rotem Karneol — hierüber um Rat fragst und auf das hörst, was er dir sagt. Wenn er dir rät zu kämpfen, so kämpfe; wenn nicht, so tu es nicht!‘ Im selben Augenblicke machte sich der König auf und begab sich zu seinem Götzen; und nachdem er ihm Opfergaben dargebracht und Opfertiere geschlachtet hatte, warf er sich vor ihm zu Boden und sprach unter Tränen diese Verse:

O Herr, ich kenne deine Allgewalt;
Doch Salomo will dich zerbrochen seim.
o Herr, laß mich um deine Hilfefiehn!
Befiehl, und ich gehorche dir alsbald!

Ich aber — so erzählte jener Dämon, der zur Hälfte in der Säulc war, dem Scheich ,Abd es-Samad, und die ihn umstanden, hörten es - kroch in den Bauch des Götzen, da ich töricht und unverständig war und mich um den Befehl Salomos nicht kümmerte, und ich hub an zu sprechen:

Was mich betrifft - — mir ist vor ihm nicht graus,
Dieweil ich aller Dinge kundig bin.
Will er den KampJ mit mir, so zieh ich hin
Und reiße ihm die Seele bald heraus!

Als der König meine Antwort vernahm, ward ihm das Herz stark, und er beschloß, gegen Salomo, den Propheten Allahs - Heil sei über ihm! —, ins Feld zu ziehen und mit ihm zu kämpfen. Er berief daher den Boten Salomos vor sich und ließ ihn heftig schlagen und befahl ihm, eine schmähliche Antwort heimzutragen; denn er sandte ihn unter Drohungen mit dieser Botschaft an Salomo: ,Deine Seele hat dir eitle Wünsche ein-geflüstert; drohst du mir mit lügnerischen Worten? Viel-leicht kannst du gar nicht bis zu mir gelangen; dann werde ich schon zu dir kommen!‘ Darauf kehrte der Bote zu Salomo zurück und meldete ihm alles, was ihm zugestoßen und widerfahren war. Als Salomo, der Prophet Allahs, das hören mußte, loderte rasender Zorn in ihm empor, und sein Entschluß trat sogleich hervor. Er rüstete seine Heerscharen, Geister und Menschen, wilde Tiere, Raubvögel und alles, was kreucht; und er befahl seinem Wesir ed-Dimirjât, dem König der Geister, die Mârids der Dämonenwelt von überailher zu versammeln, und der brachte sechshunderttausendmal tausend Teufel zuhauf. Ferner gebot er Äsaf, dem Sohne Barachijas, seine Menschenheere einzuberufen, und das waren tausendmal tausend oder noch mehr. Die alle versah er mit Rüstungen und Waffen; und dann flog er mit seinen Heeren der Menschen und Geister auf dem Zauberteppich davon, während die Raubvögel ihm zu Häupten schwebten und die wilden Tiere unter dem Teppich dahineilten. Und alsbald landete er am Gestade jenes Königs, umringte seine Insel und erfüllte die ganze Erde mit seinen Heerscharen.‘ — —.

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die Fünfhundertundeinundsiebenzigste Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Dämon des weiteren erzählte: ,Als Salomo, der Prophet Allahs — Friede sei über ihm! —, mit seinen Heerscharen rings um die Insel landete, da schickte er zu unserem König einen Boten und ließ ihm sagen: ,Siehe da, ich bin zu dir gekommen! Nun wende das drohende Unheil von dir ab; wenn du das nicht kannst, so tritt unter meine Botmäßigkeit bin und bekenne, daß ich der Apostel bin! Zerbrich deinen Götzen, bete den Einen an, dem Anbetung gebührt, und gib mir deine Tochter zur rechtmäßigen Gemahlin! Sprich mit allen den Deinen: Ich bezeuge, daß es keinen Gott gibt außer Allah, und ich bezeuge, daß Salomo der Prophet Allahs ist. Wenn du das sagst, so wird dir Sicher-heit und Heil gewährt; doch wenn du dich weigerst, so wirst du dich vergeblich auf dieser Insel wider mich verschanzen. Denn wisse, Allah, der Gepriesene und Erhabene, hat dem Winde befohlen, mir zu gehorchen; und so kann ich ihm gebieten, mich zu dir auf dem Teppich zu tragen, und ich kann dich zu einem warnenden Beispiel für andere machen.‘ Der Bote ging und brachte dem König die Botschaft Salomos, des Propheten Allahs — Heil sei über ihm! Doch der König erwiderte ihm: ,Das, was er von mir verlangt, kann nie geschehen. So melde ihm, daß ich gegen ihn zu Felde ziehen werde!‘ Darauf kehrte der Bote zu Salomo zurück und brachte ihm die Antwort. Der König aber sandte zu dem Volke seines Landes und rief alle Geister, die nnter seiner Herrschaft standen, zusammen, tausendmal tausend; und zu ihnen gesellte er noch  die Mârids und Teufel die auf den Inseln der Meere und auf den Gipfeln der Berge hausten. Darauf rüstete er seine Truppen aus; er öffnete seine Rüstkammern und verteilte die Waffen an sie. Salomo aber, der Prophet Allahs — Heil sei über ihm! —, stellte derweilen seine Heerscharen auf; er gebot den wilden Tieren, sich in zwei Schlachtreihen zu teilen, zur Rechten und zur Linken der Menschen; den Raubvögeln befahl er, auf der Insel zu bleiben und beim Angriffe den Feinden mit den Schnäbeln die Augen auszuhacken und ihnen mit den Flügeln ins Gesicht zu schlagen, während die wilden Tiere den Befehl hatten, die feindlichen Rosse zu zerreißen. Alle aber sprachen:

,Wir hören und gehorchen Allah und dir, o Prophet Allahs!‘ Darauf ließ Salomo, der Prophet Allahs, einen Thron für sich errichten, der aus Marmor gemeißelt, mit Edelsteinen besetzt und mit Blättern aus rotem Golde belegt war. Seinen Wesir Asafibn Barachija nahm er zur Rechten, und seihen Wesir ed-Dimirjât zur Linken; ebenso standen die Kömge derMenschen auf seiner rechten, die Könige der Geister aber auf seiner linken Seite, während die wilden Tiere und die Vipern und Schlangen sich vor ihm befanden. Und nun stürmte die ganze Schar wider uns los und kämpfte gegen uns auf weitem Plan zwei Tage lang; doch am dritten Tage kam das Unheil über uns, und das Gericht Allahs des Erhabenen ward an uns vollstreckt. Den ersten Angriff auf Salomo machte ich mit meinen Truppen, und ich rief meinen Gefährten zu: ,Bleibt, wo ihr seid! Ich will wider sie ins Feld treten und ed-Dimirjât zum Zweikampfe fordern!‘ Und siehe, da kam er auch schon hervor, einem gewaltigen Berge gleich; Feuer umlohten ihn, und Rauch stieg von ihm empor. Er stürmte herbei und warf eine feurige Flamme auf mich, und da war sein Feuer stärker als das meine. Und er stieß einen so gewaltigen Schrei wider mich aus, daß mir war, als stürzte der Himmel auf mich nieder, und die Berge erbebten vor seiner Stimme. Dann befahl er seinen Streitern, uns anzugreifen. Da stürmten sie auf uns los, und wir auf sie:

Mann schrie wider Mann, die Feuer loderten hervor, und der Rauch stieg empor, und die Herzen barsten schier. Die Schlacht wurde allgemein, die Vögel kämpften in der Luft, die wilden Tiere stritten auf der Erde, und ichrang mit ed-Dimirjât, bis wir beide müde waren. Doch zuletzt war ich der Schwächere; auch verließen mich meine Gefährten und Krieger, und alle meine Scharen wandten sich zur Flucht. Da rief Salomo, der Prophet Allahs: ,Greift den Tyrannen da, den Verruchten, den Elenden, den Verfluchten!‘ Noch kämpften die Menschen wider die Menschen und die Geister wider die Geister; aber schließlich unterlag doch unseres Königs Mächt, und wir wurden als Beute zu Salomo gebracht. Denn seine Heere griffen, rechts und links von den wilden Tieren umgeben, die Unseren an, und die Raubvögel schwebten über unseren Häuptern und hackten den Kämpfern die Augen aus bald mit ihren Krallen und bald mit ihren Schnäbeln, bald auch schlugen sie ilmen mit ihren Flügeln ins Gesicht. Die wilden Tiere aber bissen die Pferde und zerrissen die Streiter, bis die meisten unseres Volkes auf dem An-gesichte der Erde lagen wie gefällte Palmenstämme. Was mich betrifft, so entrann ich den Händen von ed-Dinurjât; doch er folgte mir drei Monatelang, bis er mich eingeholt hatte.‘ [Ich war nämlich vor Ermattung niedergesunken; und da hatte er sich auf mich gestürzt und mich gefangen genommen. Ich aber flehte ihn an: ,Bei Ihm, der dich erhöht und mich erniedrigt hat, schone mich und führe mich vor Salomo — Heil sei über ihm!‘ Als ich dann vor Salomo kam, empfing er mich in der übelsten Weise; und er ließ diese Säule bringen und aus-höhlen und sperrte mich in sie ein. Dann versiegelte er mich mit seinem Siegel; und nachdem er das getan hatte, schmiedete er mich in Ketten. Und ed-Dimirjât brachte mich hierher und ließ mich an dieser Stätte nieder, an der du mich siehst. Diese Säule ist nun mein Gefängnis bis zum Jüngsten Tage; und ein mächtiger Engel hat das Amt, mich in diesem Kerker zu bewachen.]‘ — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die Fünfhundertundzweiundsiebenzigste Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß1 [die Männer über den Dämon und über seine grauenhafte Gestalt in Staunen gerieten. Der Emir Mûsa rief: ,Es gibt keinen Gott außer Allah! Wahrlich, er hat dem Salomo große Macht gegeben.‘ Dann sagte der Scheich ,Abd es-Samad zu ihm: ,Du da, ich möchte dich nach etwas fragen; gib uns Auskunft darüber!‘ ,Frage, was du willst!‘ erwiderte der Dämon; und jener fuhr fort:

,Gibt es hier in dieser Gegend Dämonen, die seit der Zeit Salo-mos — Heil sei über ihm! — in Flaschen aus Messing gebannt sind?‘ Da gab der Dämon zur Antwort: ,Jawohl, im Meere el-Karkar; und an dessen Gestade wohnt ein Volk aus dem Stamme Noahs — Heil sei über ihm! Zu jenem Lande gelangte die Sintflut nicht, und das Volk ist dort von allen anderen Menschenkindern abgeschnitten.‘ Weiter fragte nun der Alte:

,Wo ist der Weg zur Messingstadt? Und wieweit sind wir von der Gegend entfernt, in der sich die Flaschen beflndeni?‘ ,Die ist ganz nahe‘, erwidertederDämon und zeigte ihnen denWeg zu der Stadt. Da verließen sie ihn und zogen weiter, bis sie vor sich ein großes schwarzes Etwas erblickten mit zwei Feuern, die einander gegenüber lagen. Der Emir Mûsa fragte den Scheich: ,Was ist das große Schwarze dort und die beiden Feuer einander gegenüber?‘ Da rief der Führer: ,Freue dich, o Emir! Das ist die Messingstadt. So ist sie beschrieben in dem Buche der verborgenen Schätze, das ich besitze. Ihre Mauern sind aus schwarzen Steinen, und sie hat zwei Türme aus anda-lusischem Messing; die erscheinen dem Beschauer wie zwei Feuer, die einander gegenüberliegen. Deswegen heißt sie auch die Messingstadt.‘ Nun zogen sie geradeswegs dorthin, bis sie bei der .Stadt ankamen; die war hochgebaut und fest, und sie ragte als uneinnehmbares Bollwerk in die Lüfte empor; die Höhe ihrer Mauern betrug achtzig Ellen, und sie hatte fünfundzwanzig Tore,] deren keines von außen sichtbar war, noch in seinen Umrissen erkannt werden konnte; denn die Mauern sahen aus wie ein Felsblock, oder wie Eisen, das in einer Form gegossen war. Da saßen die Männer ab, und mit ihnen der Emir Mûsa und der Scheich ,Abd es-Samad, und sie bemühten sich, ein Tor in der Stadt zu erblicken oder doch einen Weg, der in sie hineinführte, zu finden. Doch es gelang ihnen nicht. Darauf sagte der Emir: ,Tâlib, was sollen wir tun, um in diese Stadt hineinzugelangen? Wir müssen doch ein Tor finden, durch das wir hineingehen können!‘ Tâlib erwiderte: ,Allah lasse es dem Emir wohlergehen! Möge er hier zwei oder drei Tage Rast machen lassen, so werden wir nach dem Willen Gottes des Erhabenen ein Mittel finden, an die Stadt heranzukommen und in sie einzudringen.‘ Nun gab der Emir Mûsa einem seiner Diener Befehl, auf einem Kamel rings um die Stadt herum zu reiten und zu sehen, ob er die Spur von einem Tore fände oder etwa eine niedrigere Stelle in der Mauer als dort, wo sie lagerten. Da saß einer von den Dienern auf und. zog zwei Tage und Nächte, ohne auszuruhen, in eiligem Ritt um die Stadt herum. Am dritten Tage aber erschien er wieder bei seinen Gefährten, wie verwirrt durch den Umfang und die Höhc des Ortes, den er gesehen hatte; und er sprach: ,O Emir, der leichteste Zugang ist von dieser Stätte aus, an der ihr euch gelagert habt.‘ Darauf nahm der Emir Mûsa Tâlib, den Sohn des Sahl, und den Scheich ,Abd es-Samad mit sich, und sie stiegen auf einen gegenüberliegenden Berg, der die Stadt über-ragte. Und als sie dann dort oben standen, erblickten sie eine Stadt, so groß und herrlich, wie sie noch nie ein Auge gesehen hatte: hohe Paläste winkten, und glänzende Kuppeln blinkten; die Häuser dort hätte man voller Menschen gedacht, und die Gärten standen in voller Pracht; die Bächlein sprangen, und die Bäume waren mit Früchten behangen. Sie war eine Stadt mit festen Toren, aber sie lag öde und verlassen da; kein Laut erscholl in ihr, kein menschliches Wesen gab es dort. DieEulen schrien auf allen Seiten; über ihre Plätze sah man die Raub-vögel in kreisendem Fluge gleiten; auf ihren Wegen und Straßen krächzten der Raben Scharen und beklagten die Menschen, die einst dort waren. Der Emir Mûsa blieb stehen, voll Trauer darüber, daß sich in der Stadt keine Menschenseele fand und daß sie von allem Volke und allenEinwohnem verlassen stand; und er rief: ,Preis sei Ihm, den der Wechsel der Zeiten nicht ändert, der die Welt in Seiner Allmacht erschaffen hat!‘ Wäh-rend er so Allah, den Allgewaltigen und Glorreichen, pries, blickte er zufällig zur Seite, und da sah er sieben Tafeln aus weißem Marmor, die in der Ferne leuchteten. Er ging näher an sie heran und erkannte, daß Inschriften auf ihnen eingemeißelt waren. Da befahl er dem Scheich ,Abd es-Samad, die Schriftzüge zu lesen. Der trat vor, betrachtete sie und las; und siehe, sie wiesen die Menschen von verständigem Sinn durch Mahnung und Drohung zur Einkehr hin. Auf der ersten Tafel stand in griechischer Schrift geschrieben: ,O Sohn Adams, warum kannst du das, was dir bevorsteht, nicht fassen? All deine Lebensjahre haben es dich vergessen lassen! Bist du dir denn nicht bewußt, daß dein Todeskelch gefüllt ist und du ihn in Bälde leeren mußte? Drum bedenke, wie es um dich selber steht, ehe dein Leib in die Grube geht. Wo sind sie, die einst über die Länder geboten, die Heere befehligten und die Diener Allahs bedrohten? Über sie ist, bei Allah, Der gekommen, der die Freuden schweigen heißt, der die Freundesbande zerreißt und die bewohnten Stätten verwaist! Er trug sie aus der weiten Schlösser Pracht in der engen Gräber Nacht.‘ Und am Fuße der Tafel standen diese Verse:

Wo sind jetzt die Fürsten alle und der Erdbewohner Scharen?
Sie verließen, was sie bauten, dort, wo ihre Statten waren;
Und sie ruhen in den Gräbern als ein Pfandfur ihre Taten,
Und als Fraß der Würmer sind sie in Vergessenheit geraten.
Wo sind jetzt die Heeresscharen, die nicht Schutz noch Nutzen schafften?
Wo sind ihre Schätze, die sie häuften und zusammenraffien?
Sie ereilte das Verhängnis von dem Herrn des Thrones her;
Und da schützten und da halfen keine Erdengüter mehr!

Als der Emir Mûsa das hörte, schrie er laut auf, und die Tränen rannen ihm über die Wangen, und er rief: ,Bei Allah, die Weltentsagung ist doch das, von dem man das höchste Heil erwarten muß, sie ist der Weisheit letzter Schluß!‘ Dann ließ er sich Tintenkapsel und ein Blatt bringen und schrieb nieder, was auf der ersten Tafel stand. Darauf trat er an die zweite Tafel heran und fand auf ihr diese Worte emgemeißelt: ,0 Sohn Adams, wie konntest du dich täuschen über das, was von Ewigkeit ist? Wie konntest du vergessen, daß dir das Ende nahen kann zu jeder Frist? Wisse doch, die Welt ist ein Haus der Vergänglichkeit, und keiner findet in ihr eine Stätte der Beständigkeit. Und dennoch schaust du auf sie und hängst dich an sie! Wo sind die Könige, die einst Babylon erbauten und herrschend in die weite Welt hinaus schauten? Wo sind sie, die da wohnten in Isfahân und im Lande Chorasân? Die Stimme des Todesboten rief sie, und sie gehorchten ihr; der Herold der Vernichtung forderte sie, und sie antworteten ihm: Hier sind wir! Da konnte alles, was sie erbaut und hoch aufgerichtet hat-ten, nichts nützen; und was sie gesammelt und aufgespeichert hatten, vermochte sie nicht zu schützen.‘ Und am Fuße der Tafel standen diese Verse geschrieben:

 

Wo sind sie, deren Krafi dies alles hier erbaut
Mit hohen Söllern, wie kein Mensch sie je erschaut?
Sie scharten Heere um sich, mit besorgtem Sinn,
Durch Gottes Rat zufallen — und sie sanken hin!
Wo sind der Perser Herrscher in der Burgen Wehr?
Ihr Land verließen sie — es kennet sie nicht mehr!

Wiederum weinte der Emir Mûsa, und er rief: ,Bei Allah, wir sind zu Großem affen! ! ‘ Dann schrieb er die Inschrift auf und trat zu der dritten Tafel. —Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die Fünfhundertunddreiundsiebenzigste Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Emir Mûsa zur dritten Tafel trat; und auf ihr fand er die Worte: ,O Sohn Adams, die Liebe zur Welt hast du gern; doch du vergissest das Gebot deines Herrn! Ein jeder Tag deines Lebens geht dahin; doch du bist es zufrieden und freust dich in deinem Sinn. Rüste deine Zehrung für den Jüngsten Tag, und bedenke, was deine Antwort vor dem Herrn der Menschen sein mag!‘ Und am Fuße der Tafel standen diese Verse geschrieben:

Wo sind sie, die in allen Ländern herrschten,
In Sind und Hind, die stolze Herrenschar?
Die Sendsch und Habesch ihrem Willen fügten
Und Nubien, als es rebellisch war?
Erwarte von dem Grabe keine Kunde;
Von dort wird keine Kenntnis dir zuteil.
Im Zeitenumschwung traf sie das Verhängnis:
Aus Schlössern, die sie bauten, kam kein Heil!

Darüber weinte der Emir Mûsa bitterlich; dann trat er zu der vierten Tafel und sah auf ihr diese Inschrift: ,O Sohn Adams, wie lange noch soll dein Herr Geduld mit dir haben, während du dich an jedem Tage in das Meer deines Leichtsinns versenkst? Ist dir etwa offenbart worden, daß du nicht zu sterben brauchst? O Sohn Adams, laß dich nicht betören durch das trügerische Spiel deiner Tage, Nächte und Stunden! Wisse, der Tod lauert dir auf und ist bereit, dir auf die Schulter zu sprin-gen! Es vergeht kein Tag, ohne daß er dich am Morgen begrüßt oder dir am Abend winkt. Hüte dich vor seinem Überfall und bereite dich darauf vor! Dir ergeht es wie mir; du vergeudest deine ganze Lebenszeit und verschwendest deiner Stunden Fröhlichkeit. Höre auf die Worte mein und vertrau dem Herrn der Herren allein! Denn die Welt hat keinen Bestand; sie ist dem Spinnengewebe verwandt.‘ Und am Fußende der Tafel fand er diese Verse geschrieben:

Wo ist der Mann, der diese Türme schuf und baute
Und sie, so fest gefiigt, gen Himmel ragen ließ?
Wo ist das Volk der Burgen, das hier wohnte?
Sie zogen alle/ort, als Gott sie gehen hieß.
Sie ruhen in den Gräbern, Pfänder bis zum Tage,
Der alles, was verborgen ist, zum Lichte führt.
Und außer dem erhabnen Gott ist nichts von Dauer:
Er ist es, dem die Ehre immerdar gebührt.

Von neuem begann der Emir Mûsa zu weinen, und er schrieb sich alle jene Worte auf.‘ [Dann trat er zur fünften Tafel hin, und auf ihr stand geschrieben: ,0 Sohn Adams, was ist es, das dich fernhält vom Gehorsam gegen deinen Schöpfer und Erschaffer, der dir in deiner Kindheit die Nahrung brachte und dich zum Manne heranreifen machte? Du lobnst Seine Güte mit Undank, während Er in Seiner Huld auf dich blickt und dir in Seiner Gnade Schutz und Hilfe schickt. Wahrlich, dir ist eine Stunde bestimmt, bitterer als der Aloe Blut und heißer als der Kohlen Glut. Drum rüste dich für sie; denn wer versüßt dir ihre Bitterkeit, wer ist die Glut ihrer Kohlen zu löschen bereit? Denke an die Völker und Geschlechter, die vor dir waren, und mmm dir ein Beispiel an ihnen, ehe du untergehst.‘ Ferner waren auf ihr diese Verse eingemeißelt:

Wo sind die Fürsten dieser Welt? Sie gingen hin;
Du siehst sie hier mit allen ihren Schätzen liegen.
Als sie einst ritten, sahst du Scharen um sie her;
Die füllten alle Welt, wenn sie zu Rosse stiegen.
Wie manchen Fürst bezwangen sie zu ihrer Zeit!
Wie manches Heer ward einst durch sie besiegt, vernichtet!
Jetzt hat der Spruch des Herrn des Thrones sie ereilt;
Sie sind nach allem Glück mit Schmach zugrund gerichtet.

Diese Worte gingen dem Emir Mûsa zuHerzen, und er schrieb sie sich auf. Dann trat er zu der sechsten Tafel; und auf ihr stand geschrieben: ,O Sohn Adams, glaube nicht, daß die‘ Si-cherheit dich ewig beglückt; denn schon ist dir das Siegel des Todes aufs Haupt gedrückt! Wo sind deine Eltern? Wo sind deine Brüder geblieben? Wo deine Freunde und deine Lieben? In den Staub der Gräber fuhren die Leiber aller jener Lebenden, und ihre Seelen traten vor den Hochherrlichen, den Allvergebenden, als hätten sie weder getrunken noch gegessen, und sie sind ein Pfand der Taten, deren sie sich vermessen. Drum bedenke, wie es um dich selber steht, ehe dein Leib zur Grube geht!‘ Und ferner standen dort diese Verse:

Wo sind all die Herrscher, die Herrscher der Franken?
Wo sind sie, die einstens in Tanger gewohnt?
Nun stehn ihre Taten im Buche geschrieben
Als Zeugnis dem Einen, der wacht und belohnt! 

Der Emir war auch darüber verwundert und schrieb sich die Worte auf, indem er sprach: ,Es gibt keinen Gott außer Allah! Wie schön war der Glaube dieser Menschen!‘ Dann traten sie zu der siebenten Tafel, und auf ihr stand geschrieben: ,Preis sei Ihm, der allen Seinen Geschöpfen den Tod bestimmt hat, der da lebt und nimmer stirbt! O Sohn Adams, laß dich nicht täuschen durch deine Tage mit ihren Lustbarkeiten, noch durch deine Stunden und all deine frohen Zeiten! Wisse, der Tod wird dich bald packen, ja, er sitzt dir schon im Nacken. Drum sei vor seinem Ansturm auf der Hut, und rüste dich gegen seinen Angriff gut! Dir ergeht es wie mir. Du vergeudest die Freude deiner Lebenszeit und all deiner Stunden Fröhlichkeit. Höre auf die Worte mein und vertran dem Herrn der Herren allein! Wisse, daß die Welt nicht dauernd besteht, sondern wie ein Spinnengewebe zerweht, und daß ein jeder in ihr stirbt und vergeht. Wo ist der Mann, der Amid  begründete und bauen ließ, der Farikîn‘ errichtete und hoch in die Lüfte ragen ließ? Wo ist das Volk der Burgen? Nachdem sie dort gewohnt hat-ten, wurden sie in die Gruft gebracht; siewurden ein Raub des Todes nach all ihrer Pracht. So müssen auch wir einst heim-gesucht werden; denn niemand besteht hier auf Erden, außer allein Allah der Erhabene, und Er ist der vergebende Gott!‘ Über all das staunte der Emir Mûsa; und nachdem er sich auch diese Worte aufgeschrieben hatte,] stieg er von dem Berge hinab, indem ihm die ganze Welt vor Augen stand. Und als er zu seiner Schar zurückgekehrtwar, blieben sie noch jenen Tag über dort und sannen auf ein Mittel, in die Stadt einzudringen. Der Emir Mûsa sprach zu seinem Wesir Tâlib ibn Sahl und zu seinen Vertrauten, die bei ihm waren: ,Was für ein Mittel gibt es denn, um in die Stadt hineinzugelangen und ihre Wunder zu schauen? Vielleicht können wir in ihr etwas finden, durch das wir die Gunst des Beherrschers der Gläubigen gewinnen!‘ Da hub Tâlhb ibn Sahl an: ,Allah gebe dem Emir dauerndes Glück! Wir wollen eine Leiter machen und auf ihr hinaufsteigen; so werden wir vielleicht von innen zum Tore gelangen.‘ ,Das ist auch mir gerade in den Sinn gekom-men,‘ erwiderte der Emir, ,das ist der beste Plan.‘ Dann berief er die Zimmerleute und die Schmiede und befahl, sie sollten Hölzer zurechtschneiden und daraus eine Leiter bauen und sie mit Eisenplatten beschlagen. Die Leute machten sich sofort ans Werk und schufen eine feste Leiter; einen vollen Monat arbei-teten sie daran, und es waren ihrer viele. Als man sie dann aufrichtete und an die Mauer lehnte, reichte sie genau bis zur Höhe, als ob sie schon längst dafür gebaut wäre. Da rief der Emir Mûsa erstaunt aus: ,Allah gesegne es euch! Es ist, als hättet ihr das Maß der Mauer genommen, so vortrefflich ist euer Werk! Dann fragte er seine Leute: ,Wer von euch will diese Leiter erklimmen und auf die Mauer steigen und dann auf ihr entlang gehen und es fertig bringen, in die Stadt hinunterzuklettern, um zu schauen, wie es in ihr aussieht? Danach möge er uns auch kundtun, wie das Tor geöffnet werden kann!‘

Da hub einer von ihnen an: ,Ich will hinaufsteigen, o Emir, und dann hinunterklettern und das Tor öffnen.' ,Steig hinauf,‘ erwiderte der Emir, ,und Allahs Segen sei mit dir!‘ Nun erklomm der Mann die Leiter, bis er ganz oben war; dann richtete er sich auf, blickte starr auf die Stadt, klatschte in die Hände und rief, so laut er rufen konnte: ,Du bist schön!‘ Und er warf sich in die Stadt hinein; da ward er mit Haut und Knochen völlig zermalmt. Der Emir Mûsa aber sprach: ,Wenn ein Vernünftiger so handelt, was wird dann erst ein Irrer tun? Wenn alle unsere Gefährten das gleiche tun, so bleibt keiner von ihnen übrig; und dann können wir unsere Absicht und den Auftrag des Beherrschers der Gläubigen nicht ausführen. Rüstet euch zum Aufbruch! Wir haben mit dieser Stadt nichts mehr zu schaffen.‘ Doch einer von denLeuten sagte: ,Vielleicht steht ein anderer fester als jener.‘ Darauf stieg ein zweiter hinauf, sodann ein dritter, ein vierter und ein fünfter, und immer mehr Männer erklommen die Mauer auf jener Leiter, einer nach dem andern, bis zwölf von ihnen umgekommen waren; denn alle taten ebenso, wie der erste getan hatte. Da rief der Scheich ,Abd es-Samad: ,Nur ich allein kann dies vollbringen; denn der Erfahrene ist nicht wie der Unerfahrene!‘ Aber der Emir entgegnete ihm: ,Tu das nicht! Ich lasse dich nicht auf diese Mauer hinauf klettern! Denn wenn du umkommst, so sind wir alle des Todes. Dann bleibt keiner von uns am Leben; du bist ja des Volkes Führer.‘ Dennoch fuhr der Alte fort: ,Vielleicht wird es mit dem Willen Allahs des Erhabenen durch meine Hand vollbracht.‘ Und alle waren einverstanden, daß er hinaufsteigen solle. Da richtete der Scheich ,Abd es-Samad sich auf, faßte sich ein Herz und sprach: ,Im Namen Allahs, des barmherzigen Erbarmers!‘ Dann erklomm er die Leiter, indem er unablässig den Namen Allahs des Erhabenen anrief und die Verse der Rettung 1 betete, bis daß er oben auf der Mauer ankam. Dort klatschte er in die Hände und blickte starr vor sich hin. Aber alles Volk rief laut: ,O Scheich 'Abd es-Samad, tu es nicht! Wirf dich nicht hinab!‘ Und sie fügten hinzu: ,Wahrlich, wir sind Allahs Geschöpfe, und zu ihm kehren wir zurück. Wenn der Scheich ,Abd es-Samad fällt, so sind wir alle des Todes!‘ Er aber begann zu lachenund lachte immer lauter, und er saß eine lange Weile da, indem er den Namen Allahs des Erhabenen anrief und die Verse der Rettung sprach. Danach erhob er sich wieder und rief, so laut er vermochte:

,O Emir Mûsa, euch wird kein Leid widerfahren. Allah, der Allgewaltige und Glorreiche, hat die List und die Tücke Satans von mir abgewandt durch den Segen der Worte: Im Namen Allahs, des barmherzigen Erbarmers!‘ Da fragte der Emir:,Was hast du denn gesehen, o Scheich?‘ Und jener antwortete: ,Als ich auf der Mauer stand, sah ich zehn Jungfrauen, wie Monde anzuschauen, und die riefen mir zu!‘ — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die Fünfhundertundvierundsiebenzigste Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Scheich ,Abd es-Samad antwortete: ,Als ich oben auf der Mauer stand, sah ich zehn Jungfrauen, wie Monde anzuschauen, die winkten mir mit den Händen zu, ich solle zu ihnen herabkommen, und es kam mir so vor, als ob unter mir ein See voll Wasser wäre. Schon wollte ich mich hinabwerfen, wie unsere Gefährten es getan haben, aber da sah ich sie tot am Boden liegen. So hielt ich mich denn zurück und sprach etwas aus dem Buche Allahs des Erhabenen; und Er wandte ihren Trug von mir ab, so daß sie vor meinen Augen verschwanden. So kam es, daß ich mich nicht hinunterwarf, da Allah ihren Trug und Zauber von mir abgewandt hatte. Sicherlich ist das ein tückischer Zauber, den die Leute der Stadt ersonnen haben, umjeden, der sieanschauen will oder in sie einzudringen wünscht, von ihr fernzuhalten. Darum liegen dort auch unsere Gefährten tot am Boden.‘ Dann ging er auf der Mauer weiter, bis er zu den beiden Messingtürmen kam. Dort sah er zwei Tore aus Gold, die aber keine Schlösser hatten noch sonst ein Zeichen, daß man sie öffnen konnte. Nun blieb der Scheich eine Weile stehen, solange es Allah gefiel, und schauteumher, bis erplötzlichmitten auf einem derTore dasBild eines Reiters aus Messing erblickte, der die eine Hand ausstreckte, als ob er mit ihr ein Zeichen gäbe; und auf der Handfläche standen Worte geschrieben. Die las der Scheich ,Abd es-Samad, und sie lauteten: ,Reibe den Nagel, der auf dem Nabel des Reiters ist, zwölfmal; dannwird das Tor sich auftun.‘ Darauf betrachtete er den Reiter genau und entdeckte auf seinem Nabel einen festen und starken Nagel, der gut eingesetzt war. Kaum hatte er ilm zwölfmal gerieben, da sprang auch schon die Tür mit donnergleichem Getöse auf. Durch sie trat der Scheich ,Abd es—Samad ein, er, der ein erfahrener Mann war und alle Sprachen und Schriften kannte; und er schritt dahin, bis er in einen langen Gang kam, von dem aus er auf mehreren Stufen nach unten stieg. Da befand er sich in einem Raum mit schönen Bänken; auf diesen Bänken saßen tote Männer, und über ihrenHäuptembingenprächtigeSchilde, scharfe Schwerter und gespannte Bogen mit den Pfeilen auf den Sehnen. Hinter dem Stadttor aber befanden sich eine Eisenstange, große Riegel aus Holz, kunstvolle Schlösser und andere feste Sicherungen. Nun sagte sich der Scheich ,Abd es—Samad:  ,Vielleicht sind die Schlüssel bei jenen Toten4 und er schaute bei ihnen nach. Unter ihnen erblickte er einen Alten, dem man es ansah, daß er der Älteste von ihnen war; der saß auf einer hohen Bank mitten zwischen den toten Männern. Da sagte sich Scheich ,Abd es—Samad wiederum: ,Wer weiß, ob nicht die Schlüssel dieser Stadt bei diesem Alten sind; wahr-scheinlich ist er doch der Stadtpförtner, und die anderen sind seine Untergebenen!‘ Er trat also näher und hob das Gewand jenes Mannes hoch; und siehe da, die Schlüssel hingen an sei-nem Gürtel. Als der Scheich ,Abd es-Samad das sah, ward er von so großer Freude erfüllt, daß er fast wie von Sinnen war. Darauf nahm er die Schlüssel, trat an das Tor heran, öfinete die Schlösser und konnte die Riegel und Stangen zurückziehen. Da sprang auch schon das Tor mit Donnergetöse auf; denn es war groß und furchtbar, und alles an ihm war gewaltig. ,Allah ist der Größte!‘ rief der Scheich, und ,Allah ist der Größte!‘ tiefen die Leute draußen. Alle freuten sich unendlich; und auch der Emir war hocherfreut, daß der Scheich ,Abd es— Samad gerettet war und das Stadttor geöffiet hatte. Die Leute dankten ihm für seine Tat und drängten nun vorwärts, um durch das Tor hineinzukommen. Aber der Emir Mûsa rief ihnen zu: ,Ihr Leute, wenn wir alle auf einmal eindringen, so sind wir nicht sicher davor, daß uns ein Unheil zustößt. Nein, nur die Hälfte soll hineingehen, und die andere Hälfte soll zurückbleiben!‘ Darauf trat er mit der Hälfte seiner Leute, die alle kriegsmäßig bewaffnet waren, durch das Tor ein. Und als sie da drinnen ihre toten Gefährten erblickten, begruben sie die Leichname. Dann sahen sie auch die Türhüter, Diener, Kammerherren und Hauptleute, die dort, allesamt tot, auf seidenen Pfühlen lagen. Weiter gingen sie in die Marktstraßen der Stadt hinein und kamen zu einem großen Marktplatze mit lauter hohen Gebäuden, von denen keines die anderen überragte; die Läden standen offen, die Waagen hingen da, die Messinggeräte waren aufgereiht, und die Speicherwaren voll von Waren aller Art. Sie sahen auch die Kaufleute; aber die saßen tot in ihren Läden, ihre Haut war eingeschrumpft, und ihre Gebeine waren von Würmern zerfressen; sie waren eine Warnung für die, so sich warnen lassen. Auch sahen sie vier getrennte Marktplätze, deren Läden mit allerlei Gut angefüllt waren; aber sie verließen sie und begaben sich zum Seidenmarkt, und dort fanden sie Stoffe aus Seide und Brokat, die mit rotem Gold und weißem Silber auf vielfarbigem Grunde durchwirkt waren; doch die Besitzer waren tot und lagen auf Matten aus rotem Ziegenleder und sahen aus, als wollten sie sprechen. Von dort gingen sie zum Basar der Edelsteine und Perlen und Ru-binen; und weiter schritten sie zu der Straße der Geldwechsler, und die sahen sie tot auf ihren Decken aus Seide und Halbseide liegen, und ihre Läden waren voll von Gold und von Silber. Nachdem sie auch die hinter sich gelassen harten, kamen sie zum Basar der Spezereienhändler, und deren Läden waren an-gefüllt mit allerlei Arten von Spezereien; da waren Moschusblasen, Ambra, Aloeholz, Nadd‘, Kampfer und ähnliche Dinge. Aber die Händler waren alle tot; auch war keinerlei Zehrung bei ihnen. Und wie sie dann aus diesem Basar herauskamen, fanden sie sich in der Nähe eines Schlosses; das war mit allerlei Schmuck verziert und hoch und fest gebaut. Sie traten hinein, und dort fanden sie entrollte Banner, gezückte Schwerter und gespannte Bogen, ferner Schilde, die an goldenen und silbernen Ketten hingen, und Helme, die mit rotem Golde überzogen waren. In den Hallen standen Bänke aus Elfenbein, mit gleißendem Golde beschlagen und mit seidenen Decken belegt.

 

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