Karl Julius Weber

* 16.4.1767 in Langenburg / Hohenlohe; † 20.7.1832 in  Kupferzell/Württemberg

Werke (unvollst.):
Die Möncherey oder geschichtliche Darstellung der Kloster-Welt Stuttgart 1819/20
Das Ritter-Wesen ... oder Deutsch-Ordens-Ritter. Stuttgart 1822-24
Das Papstthum und die Päpste. Stuttgart 1824
Deutschland oder Briefe eines in Deutschland reisenden Deutschen. Stuttgart 1826-28
Demokritos oder hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen. Stuttgart 1832-36
Auswahlausgaben:
- Leipzig o. J. ca. 1880 Hg. D. Haek (Reclam)
- München 1966 Winkler Fundgrube 22 (Hg. Wolfgang Ronner)
Sämmtliche Werke 30 Bde. 1834-36

DAS LEBEN DEMOKRITS

von ihm selbst erzählt
(Auszug aus "Demokritos")

Meine Zeit, da ich anfing, mit Ernst und Nachdenken auf Dinge außer mir zu achten — der Zeitraum von 1786 bis 1816 —, wiegt Jahrhunderte der Vorzeit auf, und ich beneide den Mann, der solche einst ruhig zu studieren, und noch mehr den, der solche würdig zu schildern und der gebildeten Welt ein klassisches Werk vorzulegen vermag. Meine Wenigkeit studierte in der Jugend Jus und Geschichte mit eisernem Fleiße, Schöngeisterei sogar gehörte nur den Nebenstunden — Schlözer führte mich zur Staatswissenschaft, Lichtenberg und Blumenbach zur Naturwissenschaft; im Alter schrieb ich diese Allotria, und wenn sie anderen das gewähren, was sie mir gewährten, so hülle ich mich — nicht in meine Tugend und Verdienste —, sondern heiter lächelnd in meinen alten Überrock und stopfe eine frische Pfeife!

Ich bin geboren den 20. April 1767 zu Langenburg im Hohenlohischen. Mein Vater war fürstlicher Rentmeister daselbst und starb bereits 1782, als ich erst 15 Jahre zählte, meine Mutter verließ das Zeitliche 1803.

In eine Bibel in Quart schrieb mein Vater umständlich die Geburt seiner Kinder — ich als senior familiae stehe obenan, dann kommen drei Schwesterchen und dann ein Strich, wie man am Ende einer Arbeit zu machen pflegt. Unter diesem Strich steht aber doch noch ein Brüderchen, das der Vater nicht mehr zu erwarten schien, und ich selbst war abergläubisch genug, mir aus diesem Familien- oder Separationsstrich manches zu erklären, woran Papa und Mama gewiß nicht gedacht hatten.

Meine älteste Erinnerung ist aus dem vierten Jahre, daß Schwesterchen Lebkuchen und Steckenpferd mit-mir einbrachte, und aus dem fünften, wo ein anderes Schwesterlein sich wenig bei mir empfahl, denn ich mußte zum Metzger und die Metzelsuppe abbestellen!


Mein Nachbar, ein Schuhmacher, versetzte mit dem kommenden Frühling seine Werkstatt nach der Tenne seines Häuschens und sich nach vollendetem Tagwerk auf sein Waschhäuschen vor der Türe, rauchte seine Pfeife und erzählte uns Knaben Schnaken. Und welche Freuden gewährten die vier hohen Zeiten! Wenn ich auf dem Heu- oder Kornwagen ins Städtchen fuhr, die Obst- und Weinlese begann, ich zwischenhinein auch die Kühe hütete, wenn die Vieh-magd pressantere Geschäfte im Wirtshause abzumachen hatte, und wenn der erste Schnee fiel, das Schwein zum letzten Male seine Kantorsgurgel anstrengte und das Christkindlein das Ganze krönte! Der Schlehdorn erfreut mich in Erinnerung der Knabenzeit, wo dessen Beeren bei feierlichen Schlittenfahrten, gemildert durch die Kälte, nichts weniger als herbe schmeckten, die Blüte aber war meinem Vater noch willkommener als dem Krammetsvogel die Beeren, denn nun konnte er seine Kinder tüchtig durchlaxieren, ohne nur daran zu denken, daß er uns durch diese unnötige väterliche Vorsicht den Wonnemond verbitterte.

Mein Vater zwiebelte mich schon mit seiner Leibspeise, Lauchgemüse mit Milch und Weck — daher ich einst zur Abendzeit allen Lauch im Garten ausrottete, ohne entdeckt zu werden —, und wenn ich auf seinen ersten Ruf nicht gleich meine Bücher verließ, so maß er mich mit seiner Elle, als ob er ein Schneider und ich ein Stück Tuch wäre. Wenn meine Schwestern klagten, so schwang mein Vater summarissime1 seinen Ellenzepter über mich, und daher machte mir Rousseaus Erzählung tiefen Eindruck, der einst mit seinem Vetter sich in gleichem Falle befand — sie umarmten sich konvulsivisch, weinten, und dann schrien sie aus voller Kehle mehr als hundertmal: Carnifex! Carnifex!2 — Ich habe nichts dagegen, daß mich mein Vater prügelte, wenn ich meine Schwester prügelte, aber wenn er bei seiner Frage: ,Karl, wer kommt dort?" auf meine Antwort: "Ja, Papa, so weit sehe ich nicht", rechts und links Ohrfeigen gab, das war zu toll. Übrigens weiß ich daher, daß ich kurzsichtig geboren


1 Ohne weiteres.
2 Schinder!

bin, sonst würde ich es vom Nachtstudieren ableiten und vielleicht stolz darauf sein.

Schon als kleiner Junge besuchte ich mit meinem Vater die Kirchweihe zu D., der gern dahin ging, wo seine Mutter zu Hause war; noch lieber mag mein verliebter Großvater dahin zur Braut gegangen sein, und mein Urgroßvater lebte da auch zufrieden, wenn die fromme Herde folgte, sooft er in sein geistliches Horn stieß. Auf dem Grabstein meines Urgroßvaters, der Pfarrer zu Belsenberg, sodann elf Jahre Hofprediger und Superintendent zu Langenburg und dann 28 Jahre wieder Dorfpfarrer zu Döttingen war, woselbst er 1720 starb, steht am Schluß: ,Sein fataler Lebenslauf steht in dem selbst erwählten Leichentext Psalm 116, V. 10: Ich glaube, darum rede ich, werde aber sehr geplagt!" Mein lieber Urgroßvater mag vergessen haben, daß die Propheten nur im Alten Testamente reden durften, was sie glaubten, aber schon im Neuen Testamente übel genug wegkamen. Nie noch nützte Eifer mit Unverstand, und darum lacht sein Urenkel lieber, ist aber doch nicht gewiß, ob er nicht etwas vom Urgroßvater geerbt hat. Wer das Ländlich-Sittliche nicht versteht oder sich darüber hinwegsetzt, kann in große Ungelegenheit kommen über wahre Kleinigkeiten.

Mein alter Oheim, Geistlicher in einer großen Handelsstadt, brachte die ganze Kirche meines Vaterstädtchens einst — dies war 1796 — in Aufruhr dadurch, daß er sich in den nächsten besten Kirchenstuhl am Eingange niederließ, wo nur ein einzelner Mann saß — dieser Mann war aber der Scharf-richter. So machte es auch ungemeines Aufsehen, als er in schwarzem Amtskleide und schneeweißer Perücke zwischen zwei Häuser trat und sans façon1 das tat, was wohl schon die meisten getan haben, und mich selbst kostete einst das, was mein Oheim ungestraft tat, 15 Kreuzer.

Welche Veränderungen habe ich nicht selbst erlebt in Hinsicht der Sitten — und zähle erst 66 Jahre! Noch in meiner Knabenzeit, wo man der Franzosen nur spottete, hörte ich das Lied singen:


1 Ohne Umstände.

Der Schwed ist kommen,
Hat alles mitg‘nommen,
Hat Fenster neing‘stoßen,
Hat Kugeln draus ,gossen.
Bet, Kindlein, bet!
Morgen kommt der Schwed!
Morgen kommt der Oxenstiern,
Der wird euch Kinder beten lehm.

In meiner Jugend speiste man um 11 Uhr zu Mittag und ging dann wieder an die Arbeit, jetzt um 1 Uhr. Denn die Hausfrau ist Dame geworden, die nicht schicklich vor 9 bis 10 Uhr aufstehen kann. Die einfachen großen Männer meiner Zeit sind dahin, selbst im Mittelstande — wie mein unbedeutender Großvater, dessen Tischblatt eine große Schiefertafel war, darauf er rechnete und mich auch rechnen ließ, um Papier zu sparen. Meine gute und schöne Mutter saß noch abends mit den Mägden freundlich am Spinnrocken, während andere am Spieltische sitzen, die weit weniger Bildung haben. Sie besorgte die Küche, machte Lichter und Seife und Brot und zwischenhinein Kleidchen für die Kinder. Sie verstand mehr Französisch als mein Vater, der mir nie anders rief als Charles, denn er war am Hofe gewesen; meine Mutter auch, sie rief aber stets: Karl! In langen Winterabenden besuchten sich gute Freunde auf Bier und Tabak und die Frauen mit ihren Spinnrocken auf Nüsse, Obst und Hutzeibrot; an einem schönen Tage ging man allenfalls einmal auf ein Dörfchen, und wir Kinder trugen Kaffee, Zucker und Wecken nach. Die Kinder mußten um 8 Uhr zu Bette sein; am Sonntag ging alles in die Kirche und mußte schon am Vorabend sich still verhalten. Knaben und Mädchen wurden in die abgelegten Kleider der Eltern gekleidet, jetzt muß alles funkelnagelneu sein. Noch führe ich im Hause die Taschentücher, die mir meine Mutter mit auf die Schule gab, selbstgemacht, und vertausche sie nicht gegen ostindische. Redlichkeit herrschte noch, da man nichts als deutsche Kerbhölzer kannte, wobei ich meiner Knabenzeit gedenke, wenn ich meinem Vater ein Maß Bier aus dem Hofkeller holen mußte:


der Kellermeister bemerkte sie auf sein und mein Kerbholz. Diese Einfachheit verschwand mit den italienischen Handelsbüchern. Ich zahlte einem Prediger 80 Gulden auf dem Gymnasium (1782) für Kost und Logis, und es war besser als jetzt für 300 Gulden, studierte mit 400 Gulden, und jetzt brauchen die Herrchen ebensoviel auf dem Gymnasium. Mein Großvater, Registrator, als er seinen ledigen Bruder, Kaufmann zu Frankfurt, beerbte, wollte nun flotter leben — er war aus Schwäbisch Hall —, die Großmutter aber, eine Predigerstochter, sagte: "Warum verdient Er nicht mehr? Warum hat Er nicht mehr gelernt? Das Erbe und selbst die Zinsen davon gehören unseren Kindern!‘ — Dank dir, Großmutter, und deiner wohltätigen Pantoffelherrschaft!

Meine Mutter befahl mir noch, der Fürstin, die mich als Pate rufen ließ, den Rock zu küssen; ich muß schon in frühester Zeit kein Freund von viel Bücken gewesen sein und hob den Rock mehr, als schicklich war, empor, zum unauslöschlichen Gelächter der seligen Götter.

So trank ich noch 1788 meinen Kaffee in dem Speisesaale eines Landjunkers, dem ich meinen Universitätsfreund zum Hauslehrer empfohlen hatte, mit meinem Freunde stehend in der Türe, während die hochadelige Gesellschaft in der Vertiefung saß, und noch 1792 sagte mir ein Mann, der aber freilich in einem der Ritterkantone geboren, erzogen und angestellt war, da ich adeliger Gesellschaft auszuweichen suchte: "Das tun nur stolze Leute", und ich erwiderte: "Oder auch Leute, die über die Frage: Was ist Adel? gedacht haben und im reinen sind" — jetzt denkt er wie ich.

In meinem Vaterstädtchen war jeden Tag Reveille und Zapfenstreich, wenngleich die ganze Armee in 20 Mann bestand. Uns Knaben interessierte, einen alten Tambour in seinem schwäbischen Dialekt fluchen zu hören, und so legten wir dem Zapfenstreiche Bretter über den Weg. Er purzelte, der alte Tambour fluchte — und wir lachten uns im Hinterhalte bucklig, und keiner dachte an den Leibschaden des alten Mannes und ebensowenig an die Beleidigung des Fürsten und am allerwenigsten an die Hiebe, die es folgenden Tags in der Schule setzte.


Noch mehr fasr kann mich eine Szene aus meiner Knabenschule lachen machen. Unser einförmiges Lesen, Schreiben und Rechnen wurde oft glücklich unterbrochen durch das lächerliche Geschrei: "Herr Kantor, der hat einen ausgelassen." Es war ein kleiner, dicker, krausköpfiger Bauernjunge da, den ich noch heute malen wollte, der machte sich‘s zum Lieblingsgeschäft, den Sünder, der die Luft der niedern Schulstube vollends verpestete, wie ein Spürhund auszumitteln, worauf der Täter ohne Gnade dem Befehle: »Hinaus zur Tür!« folgen mußte, wenn das Unglück bereits geschehen und den Folgen nicht mehr vorzubeugen war, wie bei ganz anderen Verbrechen in der Gesellschaft noch heute. Wir Knaben lachten, der Kantor aber blieb ernst.

Mein Jugendunterricht wurde mit den sieben Bußpsalmen eröffnet, und der Scholarch in der lateinischen Schule, ob ich gleich viel Lob und das Prämium erhalten hatte, hunzte mich öffentlich aus, weil ich die Psalmen Davids vergessen hatte über Griechen und Römern. Wenn ich noch hinzu-nehme, daß mich schon im fünfzehnten Jahr Dominus Rektor, als ich von einer Trivialschule, deren Lehrer ich liebte, auf das Gymnasium kam und im weiteren Auditorio bei seinem Aufruf ihm lächelnd entgegensprang, um zwei Kreuzer strafte: "Das schickt sich nicht für einen Primaner", so muß ich mich über mich selbst wundern, daß ich nicht ernster geworden bin.

Ich besuchte die deutschen und lateinischen Schulen meines Vaterstädtchens bis 1782, wo ich auf das Gymnasium nach Öhringen kam. Hier verweilte ich dreieinhalb Jahre. Ich hatte auf dem Gymnasium Verdruß davon, daß ich äußerte:

"Vom Rektor lasse ich mir mein Griechisch und Latein gern korrigieren, aber nicht mein Deutsch, das verstehe ich besser!" Der Napf der Katechismusmilch und die Kartoffelmast des Gesangbuchs stand neben dem Pumpernickel der lateinischen Grammatik, Vokabeln und Seybolds Sprichwörtern. Mein Vater, der nie über Deklinationen und Konjugationen hinausgekommen, tadelte mich unendlich oft wegen der Kasus, wodurch er nebenher sein väterliches Ansehen vermehrte.

Daneben liefen Fragbüchlein voll dogmatischen Sauerteigs statt der Moral;das meinige, das ich als kanbe von neun bis zehn Jahren niederschrieb, enthält neunhundertachtundfünfzig solcher Fragen und Antworten, die auswendig gelernt sein mußten! Und auch auf dem




Gymnasium herrscht Seiler1 — es wurden theologische Ferienthemen aufgegeben Noch heute freuen mich meine aufbewahrten Schularbeit ungemein, vorzüglich eine österliche Arbeit "Über die Au erstehung", worunter Dominus Rektor schrieb: ~Schlecht! und ich: "Was tut‘s? Ich habe Lenchen kennengelernt!" No mehr freut mich eine Abhandlung "Ober den Abfall der. nordamerikanischen Kolonien". Wo doch Dominus Rektor hindachte, Primanern eine solche Aufgabe zu machen? Ich las, vierzehn bis fünfzehn Jahre alt, Griechen und Lateiner und deutsche Dichter — aber noch nicht einmal Zeitungen gab‘s meiner Dummheit schuld, daß ich mir weder zu raten noch zu helfen wußte, mein Kostherr, ein gutmütiger Prediger, merkte meine Niedergeschlagenheit, ich berichtete, un er versprach, mir zu helfen. "Genießen Sie ruhig Ihr Ferien." Er diktierte mir die ganze Abhandlung in di Feder; ich übergab sie, und nach einigen Wochen fragte er "Nun, wie ist‘s gegangen?" Statt der Antwort holte ich di ekorrigierte Abhandlung, an deren Schluß mit roter Tinte ge schrieben stand: "Dummes Zeug!"

Noch in meiner Jugend spielten die Hofprediger Ministerrollen an kleinen Höfchen. Noch steht das schöne, gebildete Kammermädchen vor mir, die an einem Höfchen, zwar vor einem Gliede dieses Höfchens, schwanger wurde — sie wurde schrecklich mißhandelt und in die weite Welt gestoßen, so wollten es Seine Hochwürden Herr Hofprediger! In meinem Vaterstädtchen war so gut als zu Hamburg ein Goeze2, und so sang ich als Knabe:

Die heiligen fünf Wunden dein
Laß mir rechte Felslöcher sein,
Darein ich flieh als eine Taub,
Daß mich der höllisch Weih nicht raub!




1 Protestantischer Theologe in Erlangen, Schulbuchautor
2 Durch seinen Streit mit Lessing bekannter protestantischer Theologe.

Dieser, mein protestantischer Katechismuslehrer, stampfte bei meinen Einwürfen gegen den Teufel mit seinem gamaschenfuße die Erde, schüttelte die Wolkenperücke und nannte mich ein Teufelskind, das er nicht konfirmiert haben wollte (etymologisch war dem auch so). Manche Gefallene, unschuldiger oft als die, die aus ihren Kirchenstühlen auf die Arme unter der Kanzel gafften (zwei sehe ich noch in Ohnmacht liegen), verdankt ihm ihr protestantisches Autodafé, das dem leibhaften Pastor Goeze meines Vaterländchens der süßeste Geruch war.

Hundertmal habe ich in der Schulzeit die Knie übereinandergeschlagen, um die Predigt nachzuschreiben, die man jetzt nicht einmal mehr hören mag, und vielleicht wäre es auch sonst noch gut, wenn Gelehrte alles auf den Knien schreiben müßten. Geistliche Lieder waren schon außer Mode gekommen, ob ich gleich als Knabe mit meinem Großvater vor Schlafengehen manchmal ein Abendlied singen und noch im Bette Gebete hersagen mußte, die immer begannen: "Das walte!"

Sonderbar müssen meine Jugendideen über den geistlichen Stand gewesen sein. Bei einer Metzelsuppe wurde ich als Knabe gefragt: "Was willst du werden?" "Kaplan." "Und warum?" "Weil ich dann, wie Herr Kaplan hier, eine ganze Wurst bekomme." Glücklicherweise bin ich von dieser Wurst-ambition bald zurückgekommen. Doch mein Vater starb in meinem fünfzehnten bis sechzehnten Jahre; ich wußte nicht anders, als daß ich Jura studieren werde, beschloß aber nun, Theolog zu werden, und lernte heimlich Hebräisch, sechs Monate lang, dann verlor sich die trübe Stimmung, die mich zum Theologen und Hebräer machte.

Man bestimmte mich der Rechtsgelehrsamkeit, und ich bezog 1786 die Universität Erlangen, wo ich neben den Rechten ebenso fleißig der Philosophie, Geschichte, schönen Wissenschaften und neuen Sprachen oblag, der italienischen und englischen, in der französischen war ich fertig genug. Und noch freut mich, daß ich als ein Student, der für fleißig galt, doch die Vorlesungen eines Professors — über römische Altertümer, voll Kleinigkeitsgeistes bei dem erbärmlichsten Vortrag - nicht länger als acht Tage besuchte, mein Honorar zahlte und nie wiederkam.

Ich habe die Zeit unsererer Empfindsamkeit durchlebt, jedoch die Sache nicht weiter getrieben, als daß ich Werthers dunkelblauen Frack, verbessert durch himmelblauen Kragen, gelbe Weste und Beinkleider mir anlegte und die Ehre hatte, daß mein Anzug Uniform aller Primaner wurde. Wenn mi meine Mutter kein Pferd passierte nach einem gewisse Städtchen, ging ich zu Fuß fort, zog aber vor den Tore desselben — Sporen aus der Tasche. Liebe kann einseitig sein und meine erste Geliebte ging in die Ewigkeit, ohne je ein Wörtchen von meiner heißesten Liebe gehört zu haben. Bein Abschied von der Lotte erbat ich mir ihre Busenschleife, und mein Taschentuch, das einst ihr Nasenblut färbte, bewahrt. ich lange ungewaschen, bis es einst meine Mutter, mir unbewußt und unbekannt mit dem hohen Werte, reinigte. Da erste Kloster machte mir, Siegwart1 zu Ehren, ungemein an genehmen Eindruck, der jedoch nicht bis zu dem Wunsch ging, die Kutte zu nehmen, was eher vierzig Jahre später hätte geschehen können, wenn es noch Klöster gäbe; und wie oft habe ich nicht auf abends zum Klavier gesungen: "Alles schläft, nur silbern schallet Mariannens Stimme noch", jedoch nie Mondliederchen gedichtet!

Nur die Akademie störte meine erste schwärmerische Liebe. Dem ernsten Jus hab ich es vielleicht zu verdanken, daß mit der Mond, der mir zu Uhringen nur lächelte oder trauerte, schon zu Erlangen anfing zu scheinen wie allen andern Menschenkindern. Aber mir ekelte vor dem Burschenwesen; ich studierte in meiner melancholischen Eingezogenheit tapfer, und, die Hauptsache, mir waren gemeine Studentennickel und selbst bessere Stubenmädchen ein Greuel, und von Stellatim- und Gassatimgehen war keine Rede. Temporibus inserviendum2 war eine Zeitlang mein Wahlspruch, da einer meiner Freunde ein Mädchen nach Hause heimführte vom Ball, das ich heimgeführt hätte, wenn ich meinen Hut gehabt hätte oder so besonnen gewesen wäre wie er — er nahm einen


1 Titelheld eines Romans von Miller, 1776.
2 Man muß sich in die Zeit schicken.

fremden Hut. Mir, Gott, mir begegnete ein noch größeres Mißgeschick, als ich den ersten Degen ansteckte und ich stieß damit einige Gläser im Bücherschranke meines Gönners zusammen!

In finsterer Nacht und durch Wälder lief ich als Erlanger Student nach einem Dorfe, wo Rousseaus Werke zu kaufen waren, damit mir kein andrer zuvorkomme; sein Bild schmückte mein Zimmer wie das Zimmer Kants, so wenig Sinn dieser Mann für Kunst hatte. Dichter stecken den guten Kopf an wie die Liebe das Herz, aber jeder nicht schlechte Kopf weiß aufzuhören, wenn er den Gott nicht in sich spürt, und läßt wenigstens nicht drucken. Einer meiner verewigten Freunde, der in unserem poetischen Wettkampf bei der Todespost von Friedrichs Hingang zu Erlangen seine Ode begann:

Ach Gott! was hab ich vernommen!
Es ist in der Zeitung gekommen,
Der große Friedrich sei tot!

sah selbst ein, daß er keinen Beruf zum Dichter habe. Ich selbst bewahre manches Gedichtchen unter meinen Papieren, das Männer gelungen fanden, die mir nicht schmeichelten, nie aber ist mir noch eingefallen, solche zu sammeln, und ich finde auch in der Menge gedruckter Gedichte von Männern, Weibern und Verlegerpöbel einen Beweis weiter, wie sehr altdeutsche Bescheidenheit abgenommen hat.

Erlangen verließ ich in Gesellschaft von vier Freunden, wir hatten alle wirklich Handwerksnamen, und der vierte hieß Meister. Die Wache der freien Reichsstadt vernahm ruhig unsere Namen, als aber zuletzt Meister nachkam, hieß es:

"Meine Herren, wir lassen nicht mit uns spaßen, marsch in die Wache!" Damals brauchte man noch keine Pässe, es blieb also nichts übrig, als unsre Coffres zu öffnen und unsere Matrikeln hervorzulangen.

Im Spätjahr 1788 kam ich wieder nach Hause, wobei ich der alten Einfachheit meines Vaterstädtchens gedenken muß. Der erste Gastwirt daselbst ersuchte mich 1788/89, einen Punsch zu machen, weil er nicht damit umzugehen wisse, und


ich ergriff mit Freuden die Gelegenheit, meinen Landsleuten Beweise zu geben von meinen auf der Universität erlangten vielseitigen Kenntnissen. Man glaubte schon, ich würde Professor zu Erlangen werden, und der Matador meines Vaterstädtchens sagte selbst mir, als ich nach Göttingen ging: "Gehen Sie, und werden Sie ein großer Mann", das heißt Professor.

Auf Verlangen meiner Mutter hielt ich um Zutritt bei der Regierung an, den ich auch erhielt. Da aber meine höchste und nächste Aussicht bloß das Justizamt zu Langenburg war, so fuhr ich sehr fleißig in meinen Studien fort und ging unter allgemeinem Widerspruch an Ostern 1790 nach Göttingen, um da eine Professur zu erstreben. Ich studierte unmäßig und lebte dabei erbärmlich, denn ich wollte meiner Mutter, die mich nicht hatte fortlassen wollen, keine Kosten mehr machen, und wurde krank. Mein mir unvergeßlicher Landsmann Schlözer, der viel in der Welt gewesen war, drang in mich, eine mir unter sehr vielen vorteilhaflen Bedingungen angetragene Hofmeisterstelle in Genf anzunehmen. Ich sagte zu und reiste im Spätjahr 1790 ab. Die Reise machte mich gesund. Die Welt und der Umgang mit Franzosen gaben meinen Ideen eine ganz andere Richtung, die der Katheder nie geben kann.

Im Jahre 1791 reiste ich mit drei Zöglingen nach Frankreich. Der Bankier, mein Prinzipal Delessert, hatte einen Bruder zu Lyon, einen anderen zu Paris, dann noch einen, der erster Bankier da ist. Man hatte mich gern, und ich war gern da, hatte aber wenig Zeit für mich übrig. Delessert war der größte Agioteur in der Revolution, der sein ganzes Vermögen wagte. Die Revolution selbst nahm den bekannten Laternen- und Guillotinengang; es kamen Briefe über Briefe von Hause, von meiner Mutter, von Verwandten und Freunden, warum ich mich in der Welt und in dem Laternenlande herumtreibe, da ich so schöne Aussichten (das Justizamt) zu Hause hätte. Endlich kam gar ein Antrag zur Kabinettssekretärstelle bei dem Grafen von Erbach, Statthalter zu Mergentheim und Kurkölnischen Geheimerat. Man ließ mich den großen Einfluß des Grafen auf den Kurfürsten merken,


von Kurfürst Max sagte die Welt viel Gutes, und ich wußte, daß Protestanten unter den Katholiken, namentlich in Wien, schon großes Glück gemacht hatten.

Der Bankier bot mir Erhöhung meines schon guten Gehalts, Pension, schöne Reisen, wenn die Jungen heranwachsen, aber, wie gesagt, die Revolution, die einen so galgenmäßigen Gang zu nehmen begann und auch an die Reichen kommen konnte, wie es geschah, bewog mich, das Sicherste zu wählen: ich nahm den Ruf an und kam 1792 durch das südliche Frankreich und Oberitalien nach Deutschland zurück, als die Preußen am Rhein standen.

Mein Graf war ein herrlicher Charakter, ich war nicht bloß wie sein Sohn, ich gewann bald einen großen Einfluß auf ihn, der nur selten Stunden hatte, wo ihn der regierende Reichsgraf anwandelte — der Mensch fand sich bald wieder ein.

Celsissimo Clementissimo1
Fehlte es nirgendwo —

als in Kassa (er war höchst leichtsinnig). "Combien de revenue a votre prince2?" fragte man mich einst im Auslande an einer reichen Bankierstafel. "Mille cents écus3"‘ sprach die Vaterlandsliebe, und der Bankier: "Bagatelle!" Wenn ich nun erst die Wahrheit gesagt hätte: zehntausend?

Unter den Deutschrittern war ich wie das Kind vom Hause, und so lebte ich glückliche Jahre 1792 bis 1797 bald zu Mergentheim, bald in der Grafschaft, bald da, wo der Kurfürst war. An meinem ersten Aufsatz fand man durchaus nichts zu tadeln als den Mangel des — Geschäftsstiles. — "Sie haben noch keinen Geschäftsstylus!" Ein anderer Aufsatz, wobei der Minister Gedrängtheit ausdrücklich empfohlen hatte, daher ich ihn in einen halben Bogen drängte, kam zurück mit einem Musteraufsatz von einem ganzen Bogen. "Nicht in der Seitenzahl liegt der Hund begraben", rief der Minister, "sehen Sie, in den Perioden — schauen S‘, Sie haben fünfzehn Perioden — haha, hier nur drei !"

1 Seiner Hoheit Gnaden.
2 Wieviel Einkommen hat Ihr Fürst?
3 Hunderttausend Taler
.

Mein Geschäft war mäßig geteilt zwischen dem Deutsch-Orden und der Grafschaft Erbach, wo ich 1794 Regierungsrat wurde und das Referat bekam. Aber höhere Aussichten, um derentwillen ich in des Grafen Dienst getreten war und womit mich der gute Graf selbst hinhielt, in kurfürstliche und kaiserliche Dienste, wollten sich nicht realisieren. Ich konnte meinen guten, alten Grafen nicht Lügen strafen, er verlor mit den Jahren den Einfluß beim Kurfürsten, teils sah der Kurfürst, ein so kluger Mann er wirklich war, doch auch überall das Gespenst der Jakobinerpropaganda, das damals tobte. Was früher Empfehlung in Deutschland gewesen wäre, war mein Unglück — daß ich aus Frankreich kam, und hatte man in Göttingen studiert, so war‘s mit dem verdächtigen Kerl richtig! Man hatte mich gern, man schlug meine Talente höher an, als sie verdienten — ich war selbst als Jüngling kein Schwärmer, aber bekannte mich zu gewissen Grundsätzen, zu denen sich jetzt gar viele, eine Generation später, bekennen, ja, die sogar zum Teil realisiert sind — ohne diese Umstände hätte ich wahrscheinlich ein glänzendes Glück gemacht, aber so war ich 1792 Jakobinerdemokrat, ja selbst Illuminat und Freimaurer. Damals war es sogar wahre Humanität, daß man mich nicht wenigstens — fortschickte! So galten im amerikanischen Freiheitskriege alle Freunde des Blitzableiters für Ubelgesinnte, denn Franklin war ja der Erfinder.

Ich hatte mich denn doch oft jugendlich unklug, zumal unter den blind katholischen Perücken zu Mergentheim, mutwillig geäußert und hatte 1794 wenigstens Verdruß, daß ich, da ich dem bigotten Beichtvater einer Erzherzogin meine Zimmer in einem Schlosse räumen mußte, an eine Fensterscheibe schnitt:

Gott steh ihr bei, Der Klerisei, Die Laien lernen lesen.

Im Spätjahr 1797 gingen wir zum Kongreß nach Rastatt, wo bekanntlich wenig geschah. Desto mehr konnte ich studieren, und ich schäme mich nicht, zu gestehen, daß ich drei


Tage lang nicht aus dem Rastatter Schloß zu bringen war, bis ich Napoleon recht ins Auge gefaßt hatte.

Nach dem Kongreß 1799 starb mein Graf, der Kurfürst folgte bald darauf nach. Ich habe noch heute mein schriftlich versprochenes Reisegeld einzunehmen von Marseille nach Franken, weil ich es nicht forderte von meinem guten Alten

— ich war der einzige, der nichts von ihm erhielt, weil ich zu oft auf seine Depensen aufmerksam machte, und mit nichts verließ er auch die Welt und mich nach acht Jahren. Er war, er dachte liberal. "Und warum benutzten Sie es nicht mit Ehre? Waren Sie nicht ein Esel?" werden meine Leser fragen. Meine Herren, Sie haben vollkommen recht! Ich schrieb sogar sein Testament, bei der Unterschrift sagte er: "Aber Sie stehen ja nicht darin?" "Ew. Erlaucht haben nichts befohlen.‘

— War dies hochherzig oder dumm? Letzteres! Wer das Nehmen, wo er dürfte, unterläßt, ist zwar ein guter Mensch, aber ein Tor, der nicht weiß, daß die Menschen es um kein Haar besser machen als die Tiere: Wenn diese gesoffen haben, drehen sie der Quelle den — Hintern. Wenn es auch hier hieß:

Virtus laudatur et alget1, so ging dies mehr auf Rechnung ihrer Finanzen und meiner allzu jugendlichen Uneigennützig keit, als daß es Undank gewesen wäre. Sie konnten nicht.

Mir blieb nichts übrig als das, was ich als Stufe angesehen hatte, meine Regierungsratsstelle zu König im Odenwald. Hier verlebte ich drei Jahre, wie ich sie niemand wünschte, von 1799 bis 1802. Ich erhielt die Stelle des Kanzleidirektors und besaß das ganze Vertrauen des Nachfolgers in der Regierung, gewesenen kaiserlich~königlichen Feldzeugmeisters. R egierungs-, Justiz-, Kammer-, Militärkabinettssachen, selbst Sachen seines Regiments wurden mir anvertraut. Ich erlag zwar nicht unter der Last, aber sie ekelte mir. Ich hatte bisher in der Welt gelebt, hier wohnte ich auf dem Dorfe; meine Geschäfte hatten mir bisher Zeit gelassen, meinen gelehrten Liebhabereien nachzuhängen, ohne den Beruf zu vernachlässigen: hier hatte ich keine Zeit, um Zeitungen oder Journale zu lesen. Ich hatte reiche Einnahmen gehabt — hier war die Lumperei so groß, daß man kaum seine Besoldung


1 Die Tugend wird gelobt und friert.

erhalten konnte, und so notorisch, daß ich keinen Kommissarius finden konnte, der die Untersuchung machen mochte.

Bei allem meinem saueren und redlich erworbenen Kredit kam ich um alles Vertrauen — nicht beim Herrn, aber bei der Einwohnerschaft als Ausländer. Zehn Jahre lang belebte mich Haß gegen einen tiefgesunkenen, talentvollen und daher desto gefährlicheren Heuchler. Meine Dienstannahme war gegen seine Wünsche und Pläne, der Mann hatte an der Spitze von zehntausend Seelen einen ins Komische fallenden Hochmut wie ein Minister an der Spitze von so viel Millionen, er hatte zuvor ganz das Ohr des Herrn durch Schmeicheleien — da war der junge, offene, geradsinnige Mann, dem er selbst Talente zugestand und der schon im ersten Vierteljahr dem Herrn sagte: "Sie haben da einen wahren Kanzleinarren, Gott gebe, daß nicht ein Schurke daraus werde, denn der Teufel sieht ihm aus den Augen", nicht sein Mann. Er unterschlug einen vertraulichen Brief, wo ich über die Verschwendung und das Schuldenmachen des Herrn jammerte, und sandte ihn ein; es hatte nicht die gehoffte Wirkung. Er veranlaßte den guten Alten zu einem ganz unnötigen Testament, worin meiner nicht gedacht war, und hoffte davon Trennung; auch das wirkte nicht. Endlich gingen die Unverschämtheiten bis zum Kulminationspunkt, er wurde abgesetzt, obgleich bei der Reichsrumpelkammer zu Wetzlar keine so baldige Hilfe zu erwarten war und er sein fixes Gehalt bis zu seinem Tod fortbezog. Nun brach erst die Wut der schwarzen Seele ganz aus, durch Verleumdungen aller Art, mündlich und in Flugblättern; er steckte sich hinter einfältige Bauern, die Prozesse anfingen, wozu er die Schriften machte, und wenn sie auch nicht zu gewinnen waren, erreichte der schlechte Mensch doch den Zweck, mich zu ärgern und bei den Bauern als ihr Patron zu erscheinen. Noch nach zehn Jahren baten mich zwei dieser Bauern auf der Frankfurter Messe um Verzeihung: Sie hatten mich, den Vorgesetzten, um sechs Kreuzer gepfändet, als ich in Gedanken über eine Wiese ging. Ich war meines Lebens im eigentlichen Verstande nicht mehr sicher und als Mann ohne Familie eines solchen Lebens satt, wo nicht viel Ehre aufzuheben war.

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