Küstersfrau    Der Tanz wird angeführt von der schönen Ehefrau des Küsters, Mari-Gaila, einer mit verschwenderischer Körperlichkeit ausgestatteten Teufelin. Die Reichhaltigkeit ihres Schatzes an »Wunderworten« steht der Fülle ihrer glühenden Sinne in nichts nach: Sie ist das pathetische Klageweib, wenn der Brauch es will, daß man die Toten beweint; ebenso geistreich singt sie coplas, wenn das Stammpublikum der Jahrmärkte unterhalten werden will; geschickt weiß sie Gespräche zu führen, bei denen Interessen im Spiel sind; mit Schmähreden ist sie schnell bei der Hand und kann ebenfalls auf die kindlichsten Litaneien zurückgreifen, um - jedoch vergeblich - den Bösen zu beschwören, der ihr keine Ruhe läßt. So scheint sie die Behauptung von William Blake zu illustrieren, derzufolge der wahre Dichter, ohne es zu wissen, auf seiten der Dämonen steht. Die Küstersfrau, die (wie übrigens auch alle anderen Personen) dem aguardiente tüchtig zuspricht und die mehr als nur zur Hälfte eine Hexe ist (sie reitet den Teufel, und er reitet sie), entgeht nur knapp dem vollständigen Verlust der Ehre. Mit ihrem Liebhaber wird die schöne Mari-Gaila im Schilf ertappt, von Bauern beschimpft, die im übrigen der Körper der Frau erregt wie der eines läufigen Tiers. Dennoch wird sie weder gelyncht noch vergewaltigt, sondern lediglich ausgezogen und auf einen Heuwagen gehoben, der sie in den Vorhof der Kirche bringt. Und dort erfolgt die verblüffende Auflösung: Der Selbstmordversuch des angetrauten Küsters, der sich vom Glockenturm stürzt, ohne auch nur eine Verletzung davonzutragen, mißglückt. Ganz offensichtlich handelt es sich um ein Wunder, und vor der nach und nach vom Respekt überwältigten Menge geleitet der Ehemann seine halbnackte Frau ins Innere der Kirche, nachdem er noch an die Worte des Evangeliums: »Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!« erinnert hat. Diese Worte bleiben zunächst wirkungslos, solange der Küster sich damit begnügt, sie in der Sprache des Volkes vorzubringen. Sie glätten jedoch auch die letzten Wogen, als er sie in Latein ausspricht und sie somit für die sich nun auflösende Menge unverständlich bleiben, wodurch ihr göttlicher Ursprung sogleich anerkannt wird.  - Michel Leiris über Ramón del Valle-Inclán: Wunderworte. In M. L., Leidenschaften. Frankfurt am Main 1992
 

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