Aus meiner Kinderzeit Vaterglückchen, Mutterschößchen Wenn ich in die Stube speie Wenn die weint, muss Vater fluchen. |
Kuchen (2) Ich erinnere mich, daß diese feierliche und ungewöhnliche Stimmung, hervorgerufen durch die große Bewegung tiefen Schweigens, mich mit einer Freude erfüllte, in die sich ein Gefühl von Furcht mischte. Kurz, ich fühlte mich, dank der entzückenden Schönheit, von der ich umgeben war, in völligem Frieden mit mir selbst und dem All; - ich glaube sogar, daß ich in meiner vollkommenen Glückseligkeit und dem gänzlichen Vergessen alles irdischen Leids dahingekommen war, die Zeitungen nicht mehr so lächerlich zu finden, die behaupteten, daß der Mensch von Natur gut ist, - als der unersättliche Leib sein Recht forderte und ich daran dachte, die Ermüdung zu beseitigen und den Hunger zu stillen, die der lange Aufstieg bewirkt hatte. Ich zog ein dickes Stück Brot aus meiner Tasche, sowie eine Ledertasse und ein Fläschchen mit einer Essenz, die damals die Apotheker den Bergsteigern verkauften, um sie bei Gelegenheit mit Schneewasser zu verdünnen.
Ich schnitt in aller Ruhe eine Scheibe Brot ab, als ein ganz leises Geräusch mich veranlaßte, die Augen aufzuheben. Vor mir stand ein kleines, zerlumptes, schwarzes, struppiges Kerlchen, dessen hohle, scheue und gleichsam flehende Augen das Stück Brot gierig verschlangen. Und ich hörte ihn mit leiser, heiserer Stimme das Wort: Kuchen! seufzen.
Ich mußte lachen, als ich die Bezeichnung hörte, mit der er mein fast weißes Brot zu nennen geruhte, ich schnitt eine ordentliche Scheibe für ihn ab und bot sie ihm an. Langsam kam er näher, wobei er den Gegenstand seiner Begehrlichkeit nicht aus den Augen ließ; dann schnappte er mit der Hand nach dem Brot und wich eiligst zurück, wie wenn er gefürchtet hätte, daß meine Gabe nicht aufrichtig gemeint wäre, oder daß sie mich schon gereute.
Doch im gleichen Augenblick wurde er von einem anderen kleinen Wildling jählings
umgeworfen, der aus irgend einem Loch herausgekommen war und dem ersten so völlig
glich, daß man ihn für seinen Zwillingsbruder hatte halten können. Zusammen
rollten sie auf den Boden und rissen sich um die kostbare Beute, da offenbar
keiner seinem Bruder die Hälfte zu opfern geneigt war. Der erste, voller Wut,
packte den zweiten bei den Haaren; dieser biß ihn ins Ohr und spuckte ein kleines
abgebissenes blutiges Stück aus, wobei er einen derben Fluch in seiner heimatlichen
Mundart ausstieß. Der rechtmäßige Besitzer des Kuchens versuchte seine kleinen
Krallen in die Augen des Räubers einzugraben; dieser bot alle seine Kräfte auf,
seinen Gegner mit der einen Hand zu erdrosseln, während er sich mit der anderen
bemühte, den Kampfpreis in seine Tasche gleiten zu lassen. Doch der Besiegte,
von der Verzweiflung neu belebt, schnellte wieder auf und warf den Sieger durch
einen Stoß mit dem Kopf in den Magen zu Boden. Wozu einen abstoßenden Kampf
beschreiben, der tatsächlich langer dauerte, als ihre kindlichen Kräfte eigentlich
erwarten ließen? Der Kuchen wanderte von Hand zu Hand und wechselte jeden Augenblick
die Tasche; doch, ach! er veränderte auch seinen Umfang, und als sie endlich,
erschöpft, keuchend, blutig, aufhörten, weil es unmöglich war, fortzufahren,
gab es wirklich gar keinen Grund mehr, die Schlacht fortzusetzen; das Stück
Brot war verschwunden, es war, in Krümchen
verstreut, den Sandkörnern gleich geworden, mit denen es sich vermischt hatte.
- Charles Baudelaire, Der Spleen von Paris. Zürich 1977 (Übs. Walther
Küchler)
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