ranker   Wie alle Kranken erwacht er morgens oft mit einem tiefen, wohligen Gefühl der Gesundheit. Er nimmt die eng gewordene Welt nicht wahr, die Kürze selbst der wenigen Wege, die er noch in seiner Wohnung zurücklegt. Sein immer winzigeres Leben erscheint ihm in der angemessenen Größe, wie ein Anzug, der sich ihm akkurat und elegant anpaßt. Warum ausgehen, wenn der Himmel so tief verhangen ist und die Sonne sich nicht blicken läßt? Warum sich bewegen, wenn die Unbeweglichkeit offenkundig so viel sinnvoller und sachkundiger ist? Er fühlt sich wohl - warum sollte er also Gesten machen oder Worte sprechen und Gedanken denken, die dieses wunderbare Gleichgewicht ins Wanken bringen könnten?

Um ihn herum bewegen sich indes andere Personen und er merkt, daß bei ihnen die Gefahr liegt. Er möchte gern allein sein, er weiß aber auch, daß die Einsamkeit, die ihn behütet, geduldig aus einer Menge - drei oder vier Personen mindestens — herausgeschnitten werden muß. Seine Frau blickt ihm forschend ins Gesicht: »Du siehst heute wirklich besser aus«, bemerkt sie. Das perfekte Gleichgewicht ist zerstört - in klägliche Stücke zerbrochen. Er betrachtet das Gesicht im Spiegel, das soeben von seiner Frau erforscht wurde, die seit Jahren mit ihm und diesem Gesicht zusammengelebt hat, und die sich an seine Existenz gewöhnt hat - eine Gewohnheit, die er nie anzunehmen vermochte. Er prüft das Gesicht, das heute besser aussieht: mager, mit unnatürlich großen Augen und trockenen Lippen, die - anderem geweiht - niemand zu küssen wagt. Er betrachtet die Haut an seinem Hals und die ungekämmten Haare. Dann legt er sich wieder hin und denkt erneut an seinen Körper - jenen Körper, den überzustreifen er einen Augenblick lang vergessen hatte.  - (pill)

 

Krankheit

 

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