Kopfungetüm    Der Detektiv setzte sich hinter ein solches Steuerpult und flüsterte ein unverständliches Codewort in die Metallknospe eines vorgebogenen Mikrofons. Im selben Augenblick verringerte, mäßigte sich die quirlige Betriebsamkeit von Glühpunkten, Zahlenausschüttungen und Leuchtrufen. Die Bildschirme senkten ihren Schimmer. Das, was zuvor hüpfte und heftig ausschwang, glitt nun in einen ruhigen, mittleren Tonus über, gleichsam als würde der erregte Traum der Apparate von einem tieferen, schweren Schlaf abgelöst. In dem Maße wie sich das Licht von den Bildschirmen zurückzog, dämmerte vor den Augen der Anlageberaterin eine hohe, gläserne Fläche herauf, hinter der allmählich ein schaukelnder Wasserrand sichtbar wurde. Ein riesengroßes, die ganze Wandbreite einnehmendes Aquarium tauchte nun auf, und es dauerte nicht lange, da begannen die Wellen an der Oberfläche sich stärker und angespannter zu bewegen. Aus dem braungrünen Dunkel entstand eine ferne, leichte Aufhellung, und die ganze Stimmung war jetzt so, als ob gleich etwas Übermäßiges und Formgewaltiges herannahte. Aber, da gleichzeitig ein süßer flötenähnlicher Ton durch den Raum drang, mochte es sich auch um etwas kolossal Liebliches handeln. Doch plötzlich, ohne sichtbares Ankommen, war es bereits in Erscheinung getreten: ein Kopfungetüm von unvorstellbaren Ausmaßen schwamm und schwebte körperlos hinter der Scheibe. In seiner oberen Hälfte war es das Gesicht eines reifen, alternden Mannes. Jawohl, bis zu den Backenknochen war es Mensch; darunter aber krümmte sich das mißlaunige Maul eines feisten Hünenkarpfens. Das Haupt des Besitzers . . . der Deutschen. Es ragte wohl gut drei Meter über der kleinen Frau in die Höhe. Die Augen des Wesens blickten gut und gerecht, das Fischmaul aber blickte düster und gemein. Die vier langen Barteln wehten träge wie schlappe Festtagsfahnen. Das dunkelblonde Lockenhaar wogte leicht um seine Stirn und schien immer neu hervorzuquellen. Jedoch — so wenig diese guten treuen Augen irgendetwas sahen, so wenig konnte dieser verächtliche Mund etwas aussprechen. Die Organe der Wahrnehmung und der Äußerung mußten sich noch woanders befinden, und der eigentliche Wesenskern des Besitzers verbarg sich hinter dieser ungeheuerlichen Mißbildung wie hinter der Narrenmaske einer Karneval feiernden Evolution. Es verwunderte daher die Kauffrau nicht, als sie kurz darauf die Stimme des Besitzers vernahm, ohne daß sich dabei sein Fischmaul bewegt hätte. Diese Stimme erklang vielmehr dicht hinter ihrem Ohr und sie war so einschmeichelnd und wohltönend, wie es eine heutige Menschenstimme gar nicht sein kann. Nur ein untergegangener Überirdischer konnte so machtvoll und zärtlich zugleich eine Frau ansprechen.    - Botho Strauß, Der junge Mann. München 1984
 

Kopf Ungetüm


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