opfbibliothek Als
Dreißigjähriger vermachte er, ohne im übrigen ein Testament aufgesetzt zu haben,
seinen Schädel samt Inhalt einem Institut für Hirnforschung. Er begründete diesen
Schritt mit dem Vorteil, den es brächte, sein wahrhaft phänomenales Gedächtnis
durch eine besondere Struktur, vielleicht doch auch ein größeres Gewicht seines
Hirns zu erklären. Zwar glaube er nicht, schrieb er an
den Leiter jenes Instituts, daß Genie Gedächtnis sei, wie man seit einiger Zeit
vielfach anzunehmen beliebe. Er selbst sei nichts weniger als ein Genie. Aber
den Nutzen des fast erschreckenden Gedächtnisses, über das er verfüge, für seine
wissenschaftliche Arbeit zu leugnen, wäre unwissenschaftlich. Er trage gleichsam
eine zweite Bibliothek im Kopf, ebenso reichhaltig und verläßlich wie die wirkliche,
von der man, wie er höre, allgemein so viel Aufhebens mache. Er sitze an seinem
Schreibtisch und entwerfe Abhandlungen, in denen er bis auf die exaktesten Einzelheiten
eingehe, ohne, außer eben in seiner Kopfbibliothek, je nachzuschlagen. Wohl
prüfe er später Zitate und Quellenangaben an Hand der realen Literatur genau
nach; aber nur aus Gewissenhaftigkeit. Irgendeines Gedächtnisfehlers, der ihm
je unterlaufen sei, könne er sich nicht entsinnen. Selbst seine Träume hätten
eine schärfere Fassung als die bei den meisten Menschen übliche. Unplastische,
farblose, verschwommene Visionen seien den Träumen, die er bis jetzt berücksichtigt
habe, fremd. Nie stelle bei ihm die Nacht etwas auf den Kopf. -
Elias Canetti, Die Blendung. Frankfurt am Main 200 (zuerst 1935)
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