Körperschrift    Die Kommentatoren pochen darauf: der Leib des Menschen ist angefüllt mit Höhlen, Kavernen, Einbuchtungen, Auswüchsen und Dickichten; und durch die Schenkelsäulen, die Kniekuppeln, die Lendenebenen, die Ohrspitzen, die nachdenklichen Photosphären der Augen, ist dieser Leib, diese Fleischmaschine, dieser Haut-und Knochen-Temenos, dieses behaarte Chartres über und über bekritzelt mit winzigen, larvenhaften aber unbezweifelbaren Schriftzeichen. Muß man das geometrische Monologisieren der Handflächen erwähnen, das gelehrte Kryptogramm der Runzeln, die Echo-Haine der Fettbrust, die Aufteilungen der Hinterbacken, die spermatischen Ethymologien, abgesehen von der lückenhaften Elfenbeinkette des Mundes, zwischen die sich die Fleischhalbinsel drängt, eingetunkt in einen abgestandenen Speichel von Bedeutungen? Ist daher nicht vielleicht unser Leib Indiz, Warnung, Zeichen, vielleicht von Gott zusammengestellter Brief; sind wir vielleicht nicht Botschaften mit Eigenantrieb, Räu-mungs-Telegramme, schmerbäuchige Episteln, blutige Predigten, psychologisierte Liebesbriefchen, vagabundierende Visitenkarten, nächtliche Lichtpausen? Und was bedeutet dies unser Geschriebensein anderes als eine geniale Publikationsform eines lebendigen und lebhaften Kommentars? Und da ein jeglicher von uns ganz geschrieben ist, könnte jeder Leib, in Leder gebunden, sich als Einzelband eines großen Werkes vorstellen, oder doch als farbige Wochenheftlieferung einer Universal-Enzyklopädie; unser geselliges Zusammenrotten käme dann aus Impulsen unserer graphischen Körper auf eine Anordnung zu, in der, wenn auch nur für kurze Augenblicke, die Gegenüberstellung der Todgeweihten einen flüchtigen aber feierlichen Aphorismus schriebe, oder vielleicht Kapitel oder Buch, dessen wir, die Träger, uns gänzlich unbewußt sind, wenngleich manche den Verdacht hegen, daß dies Buch nicht weniger inexistent als sinnvoll sei. Ihr Leser, so behaupten sie des weiteren, vernachlässigt diese gedrängten Meisterwerke, die aus der winzigen Typographie der Krätzmilbe oder der großen Rotationspresse der Lepra hervorgehen. Der Körper ist, außen und innen, dichtbedruckt, mit Anmerkungen, Kundgebungen, Notizen, Skizzen, emsigen Kritzlern, Inschriften und Rösselsprüngen: eine Bibliothek, die den eiligen Blicken der Fachspezialisten vorbehalten ist. Jene, die sich selber und die auch wir Somatographen nennen, stellen fest, wie jeder somatische Kommentar, im gleichen Maß wie es uns gelingt, ihn zu entziffern, sich als von grollendem und klebrig-ansetzendem Saft durchtränkt, wenn nicht überhaupt zusammengesetzt erweist; was nicht verwundern kann, sofern man sich vor Augen hält, daß der Mensch zum großen Teil Pestbeule und Kot, trüber Schweiß, Speichel und Samen ist.   - Giorgio Manganelli, Omegabet. Frankfurt am Main 1988 (zuerst 1969)
 

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