loake   Während unser menschlicher Schatten auf der Bühne unseres Bewußtseins seine offizielle, reife und genehme Handlung aufführt, ringt unsere eigentliche Realität hoffnungslos mit der Dummheit und dem Blödsinn, stößt tapsig an Hirngespinste und Unsinnigkeiten in einer Dunkelzone ohne Namen und festen Ort. Unser Schatten hat alle Vorrechte der Existenz rechtswidrig an sich gerissen, während unsere obdachlose menschliche Realität das heimliche Dasein und verstohlene Leben eines vertragslosen Untermieters fristet. Gombrowicz zeigt, wie die angeblich reifen und klaren Formen unserer geistigen Existenz ein »frommer Wunsch« sind und eher als ewig angespannte Absicht in uns leben denn als Realität. Als Realität leben wir ständig unterhalb dieser Hochebene, in einem vollends ehrlosen und unrühmlichen Bereich, der so gewöhnlich ist, daß wir zaudern, ihm auch nur den Schein einer Existenz zuzubilligen. Gombrowicz'  bedeutende Tat ist eben, daß er nicht zögert, diesen Bereich als eigentliche und urmenschliche Domäne des wahren Menschen anzuerkennen, daß er ihn, verlassen und unbebaut wie er bisher war, für das Bewußtsein adoptierte, ihn identifizierte und ihm einen Namen gab: die erste Stufe zu einer großartigen Karriere, welche ihm dieser »Manager« der Unreife in der Literatur bahnt.

So wie jede reife Existenz des Menschen ihr entsprechendes Gegenstück in den Formen und Inhalten der höheren Kultur hat, so besitzt auch diese heimliche und inoffizielle Existenz eine Welt entsprechender Gegenstücke, in der sie sich fortbewegt und wirkt. Vom Standpunkt der Kultur aus sind dies bestimmte Neben- und Abfallprodukte kultureller Prozesse, eine Zone subkultureller unausgeformter und rudimentärer Inhalte, ein riesiger Schuttplatz, der die Randgebiete der Kultur verunreinigt. Diese Welt von Kanälen und Gossen, diese ungeheure Kloake der Kultur bildet jedoch eine Grundsubstanz, einen Dünger, einen lebenspendenden Brei, aus dem jeder Wert und jede Kultur wächst. Hier befindet sich ein Sammelbecken gewaltiger emotionaler Spannungen, welche diese subkulturellen Inhalte zu binden und sammeln vermochten. Unsere Unreife (und im Grunde vielleicht unsere Lebenskraft) ist durch tausend Knoten, tausend Atavismen, mit jener zweiten Garnitur der Form, mit jener Kultur zweiter Klasse verknüpft, steckt kraft uralten Bündnisses und uralter Gemeinschaft beharrlich in ihr. Während wir unter der Hülle erwachsener und offizieller Formen höheren, verfeinerten Werken huldigen, findet unser tatsächliches Leben heimlich und ohne höhere Sanktionen in dieser schmutzigen heimischen Sphäre statt, und die in ihr gespeicherten emotionalen Energien sind hundertfach mächtiger als jene, die der dünnen Schicht des Offiziellen zur Verfügung stehen. Gombrowicz zeigt, daß sich gerade hier, in dieser verschmähten und unrühmlichen Sphäre, schäumendes und üppiges Leben vermehrt, daß das Leben auch ganz gut ohne höhere Sanktionen auskommen kann, daß unter dem hundertfachen Druck des Ekels und der Schande es sich besser fortpflanzt als auf den Hochebenen der Sublimation.  - Bruno Schulz, Nachwort zu (fer)

Kloake (2)  Er führt mich in den Keller zu einer Falltür. »Sie sind jetzt alle dort unten«, flüstert er mir zu. »Seit ein paar Monaten versammeln sie sich alle in der Kloake. Alle sind da unten... hör nur...«

Wir lauschten. Durch den Fußboden drang ein schwer zu beschreibendes Geräusch herauf: ein Gesumme, ein dumpfes Beben, ein Brodeln wie von unruhig gärenden Stoffen, und dazwischen Stimmen — kleine, spitze Schreie, Pfiffe, Gezischel.

»Wie viele mögen es sein?« fragte ich, und ein Schauder überlief mich.

»Was weiß denn ich? Millionen vielleicht... Jetzt schau einmal, aber schnell!« Er entzündete ein Streichholz und ließ es durch die geöffnete Falltür hinunterfallen. Sekundenlang sah ich in diese Höhle hinab, in der zahllose schwarze Formen übereinander hinwegkletterten, durcheinanderschossen, sich zu Wirbeln ballten. In diesem ekelerregenden Tumult brodelte eine Kraft, eine teuflische Vitalität, die niemand mehr würde aufhalten können. Und ich sah ihre Pupillen leuchten, Tausende. Bösartig starrten sie zu mir empor. Mit einem dumpfen Knall warf Giorgio die Falltür zu.

Und jetzt? Warum hat mir Giovanni geschrieben, er könne mich nicht mehr einladen? Was ist geschehen? Gerne würde ich ihn aufsuchen, um mir Klarheit zu verschaffen, aber ich gestehe, daß mir der Mut dazu fehlt. Von verschiedenen Seiten sind sonderbare Gerüchte zu mir gedrungen. Die Leute, die davon sprechen, lachen darüber, wie über Märchen. Aber ich lache nicht. Da heißt es zum Beispiel, daß niemand mehr das Haus verläßt, und daß ein Mann aus dem Dorf die Lebensmittel am Waldrand abstellen muß, weil man auch nicht mehr in das Haus hinein kann. Riesige Mäuse, so erzählt man sich, hätten von ihm Besitz ergriffen, die Corios seien zu ihren Sklaven geworden. Ein Bauer, der sich einmal heranwagte — nicht zu nahe, weil an der Schwelle des Hauses ein Dutzend Ungetüme Wache hielten.  - Dino Buzzati, Die Maschine des Aldo Christofari. Frankfurt am Main 1985

Kloake (3)  »Mylord«, hatte er kurzerhand erklärt, »ich wette um einen Wochenlohn, daß keiner Ihrer betreßten Lakaien, die so viel Wind gemacht haben, bevor sie mich zu Ihnen ließen, sich zurechtfinden würde, wenn man ihn eine Stunde in mein Kanalisationsnetz einsperrte, aber, Ehrenwort, ich wette um Ihre Jahresbezüge als Bankpräsident, daß trotz Ihrer Eisentüren, Ihrer elektrisch geladenen Gitter, Ihrer Sicherheitsschlösser, Ihrer Alarmklingeln, einer Armee von Wächtern, Polizisten und bewaffneten Soldaten in den Kellern und auf den Dächern und trotz allem möglichen Sicherheitszauber, den Sie sich nur ausdenken können — ich wette, daß Sie mich nicht daran hindern werden, in den Tresor der Bank von England einzudringen und mich in Ihren Goldreserven herumzuwälzen. Schlagen Sie ein! Ich erwarte Sie morgen um zwölf Uhr mittags.«

»Du glaubst mir doch, Korporal? Dieser Lord war nicht auf den Kopf gefallen, er hat meine Wette angenommen. Und am nächsten Tag, genau um zwölf, als sie anmarschiert kamen, die Schlappschwänze, die Polizisten und Soldaten und Wärter und die komischen Kerle, die alle zu dem alten Kasten gehörten, und die Bonzen von der Hochfinanz, und als mein Lord den Schlüssel herumdrehte und die Tür des Tresors aufstieß, was meinst du, mein Freund, wer da mit dem Hintern auf den Moneten Ihrer Gnädigen Majestät saß und sich mit ihren dreckigen Kröten hatte vollstopfen können? Das war meine Wenigkeit, mein Bester, und sie konnten mich alle sehen, wie du mich siehst, nur daß ich mir einen Ast lachte, und ihnen fielen fast die Augen aus dem Kopf. Oh, verdammte Scheiße! Das war kein Kino, das war sogar noch toller als Fantomas! Sie kriegten sich nicht ein, die ganzen hohen Tiere. Und es waren welche in der Bande, die mich am liebsten umgebracht hätten, gemeine Kerls. Aber sie kamen nicht an mich ran. Mein Lord hat mich am Arm gepackt und mitgenommen. Wir haben uns alle beide in sein Büro eingeschlossen. Er wollte nicht, daß man uns störte. Dahin wollte ich ja gerade kommen. Und es lief wie am Schnürchen. Wir haben wie Kumpels miteinander geredet, und sofort waren wir uns einig. Ich sagte dir ja, er war nicht auf den Kopf gefallen, der Knabe. Ich hab mich halb totgelacht. Aber ich hab ihm mein Wort gegeben, nie etwas zu sagen. Ich hab's geschworen. Und ich erzähl dir nur davon, weil ich sowieso krepiere, glaub mir das . . .«   - Blaise Cendrars, Wahre Geschichten. Zürich 1979

 

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